Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten Historiker angesichts der Katastrophe, in die die Geschichte des deutschen Nationalstaats jüngst gemündet war, das Leben des Reichsgründers neu zu bewerten. Dabei verfolgten sie sachlichere, weniger nationalistische Ansätze als in der Vergangenheit, hielten aber das überwiegend positive Bismarckbild aufrecht. Die erste Bismarck-Biographie nach dem Krieg, die Wilhelm Mommsen 1959 vorlegte, setzte gleich den entsprechenden Ton. Angloamerikanische Historiker begannen dagegen, die widersprüchliche Persönlichkeit Bismarcks mithilfe der Psychoanalyse auseinanderzunehmen, allen voran der große A. J. P. Taylor. In den 1960er und 1970er Jahren verdrängte der Aufstieg der Sozialgeschichte vorübergehend die Beschäftigung mit der Person Bismarcks. Stattdessen rückten die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen in den Vordergrund, innerhalb derer Bismarck – wie jedes andere Individuum auch – agierte.2
Anfang der 1980er Jahre erwachte die biographische Forschung zu Bismarck wieder aus ihrem Winterschlaf. Seitdem haben sowohl deutsche als auch internationale Historiker alle paar Jahre umfangreiche Studien vorgelegt, in denen sie mithilfe neuer Forschungsansätze aus der Politik-, Sozial-, und Kulturgeschichte Bismarcks historische Rolle unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten kritisch durchleuchtet haben. Auf diese Weise ist in den vergangenen fünfzig Jahren eine große Vielfalt an unterschiedlichen Interpretationen entstanden, die in der Regel die Vielschichtigkeit des Staats- und Privatmannes, des Preußen und Deutschen, des Genies und – wie der Publizist Johannes Willms titelte – „Dämons“ betonen. Drei besonders berühmte Beispiele müssen hier genügen. In seiner mittlerweile zu einem Klassiker des deutschen Bildungskanons aufgestiegenen Bismarck-Biographie hat Lothar Gall 1980 einen „weißen Revolutionär“ porträtiert, der zum Erhalt und Ausbau der preußischen Monarchie angesichts der wachsenden Kräfte des Parlamentarismus und des Nationalismus den Status quo der deutschen Verhältnisse vollkommen umkrempelte. Der ostdeutsche Historiker Ernst Engelbert hat Bismarck dagegen im Einklang mit dem marxistischen Geschichtsnarrativ der DDR kurz vor der Wiedervereinigung als einen realpolitischen Erneuerer gezeichnet, der die Arbeiterklasse aufgrund seiner Wurzeln im preußischen Junkertum zwar nicht verstand und sie politisch verfolgte – Stichwort: Sozialistengesetze – , ihr aber gleichzeitig mit der Gründung des Nationalstaates die Plattform für ihren weiteren Aufstieg schuf. In einer erst vor wenigen Jahren erschienenen und seitdem viel beachteten Biographie hat Jonathan Steinberg Bismarck schließlich als einen „Magier der Macht“ beschrieben, dem man sich nur über seine widersprüchliche, von Emotionen zerrissene Psyche nähern kann.3
Angesichts dieser großen Bandbreite an Deutungen, die die Geschichtswissenschaft in den letzten anderthalb Jahrhunderten zum ersten deutschen Kanzler hervorgebracht hat, gibt es heute nicht nur einen Bismarck, sondern viele. In einem Artikel zum Thema „100 Jahre Bismarck-Biographien“ hat die in England lehrende Historikerin Karina Urbach diese Tatsache schon 1998 treffend beschrieben: „Mindestens sechs Generationen sind über Bismarcks Leben unterrichtet worden, und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass fast jede zweite deutsche Generation eine andere Version von Bismarck kennengelernt hat.“ Die Frage bleibt also: Wer und was war Bismarck eigentlich? Wie Urbach überspitzt formuliert hat, gibt es in der historiographischen Debatte „zwischen Heilsbringer und Bösewicht“ nahezu jede Interpretation. Bemerkenswert ist dabei vor allem eines: Unser Bild von Bismarck ist mit der Zeit nicht klarer, sondern eher undeutlicher geworden. Je mehr Historiker die plumpe Verherrlichung früherer Jahre zurückgelassen und auf der Basis sauberer Quellenarbeit ausgewogenere Urteile gefällt, das heißt, nicht nur unhaltbare Apotheosen, sondern auch vorschnelle Verdammungen vermieden haben, desto komplexer ist die historische Figur geworden, die sie schildern. Der Nebel um den Reichsgründer hat sich gewissermaßen nicht gelichtet, sondern nur seine Gestalt geändert. Aus dem Dunst der mythischen Glorifizierung ist der Schleier widersprüchlicher Interpretationen geworden, die versuchen, den Mythos zu dekonstruieren. Dieser Substanzwandel ändert aber nichts an der Wirkung des Nebels: Die Person, die sich hinter ihm verbirgt, bleibt weiterhin ein Phantom, nach dem Historiker mit immer neuen Methoden fahnden, ohne es endgültig zu fassen zu bekommen.4
Bismarck mit den Diplomaten (v. l. n. r. Heinrich Abeken, Robert von Keudell, Rudolf Delbrück, Paul Graf von Hatzfeldt, Friedrich Alexander Graf von Bismarck-Bohlen). Aus einer Serie von Gruppenbildern zur Kaiserproklamation am 18. Jan. 1871 in Versailles.
Dieses Problem liegt in der Natur der Sache. Ob der vielschichtigen, vermutlich bipolaren Persönlichkeit Bismarcks, der komplexen Umstände seines Wirkens und des widersprüchlichen Charakters des Reiches, das er schuf, werden wir je nach Blickwinkel immer ganz verschiedene Umrisse seiner Person ausmachen. Der Ausschnitt dessen, was wir im Nebel erblicken können, ändert sich gewissermaßen mit jedem neuen Ansatz und mit jeder neuen Erkenntnis. Die gesamte historische Figur wird aber stets so schemenhaft bleiben, dass sie immer auch ganz anders interpretiert werden kann. Alles, was wir daher tun können, ist, uns dem Phantom immer wieder neu zu nähern, dabei unseren Blick zu schärfen und so zu versuchen, die Konturen, die wir im Nebel erkennen, so genau wie möglich nachzuzeichnen. Die Brille, durch die wir dabei schauen müssen, um überhaupt etwas zu sehen, sind die historischen Quellen, die Bismarck und sein Umfeld hinterlassen haben. Besonders aufschlussreich sind dabei die Erinnerungen der Leute, die eng mit Bismarck zusammengearbeitet haben. Denn sie geben uns die Chance, den „Steuermann“, der den deutschen Staat auf dem „Strom der Zeit“ manchmal mit und manchmal gegen die Strömung durch die Wellen und Wogen lenkte, wie Christopher Clark argumentiert hat, aus der Perspektive seiner wichtigsten Crewmitglieder zu betrachten.5
Zwei besonders wichtige derartige „Logbücher“ über Bismarck und seinen politischen Kurs gibt die Wissenschaftliche Buchgesellschaft nun anlässlich des 150. Jubiläums der Reichsgründung neu heraus: die Aufzeichnungen Robert von Keudells über Fürst und Fürstin Bismarck und die Bismarck-Erinnerungen Robert Lucius von Ballhausens. Wer waren diese beiden Männer? Und was können uns ihre autobiographischen Schriften über Bismarck sagen? Anders gefragt: Inwiefern können sie uns dabei helfen, ein klareres Bild von dem Phantom im Nebel zu erhalten?
Robert von Keudell wurde 1824 in Königsberg in eine wohlhabende Offiziersfamilie geboren. Sein Vater Leopold (1769–1831), Spross eines alten hessischen Adelsgeschlechts, diente als Major in der preußischen Armee, seine Mutter Wilhelmine (1789–1848) war die Tochter des preußischen Generalmajors Gottfried von Hartmann (1738–1807), der in den Revolutionskriegen gegen Frankreich mit dem Pour le Mérite ausgezeichnet worden war. Die sicheren finanziellen Verhältnisse seines Elternhauses erlaubten Robert, von Kindheit an seinen musikalischen Interessen nachzugehen. Während seiner Studienzeit in Heidelberg und Berlin, wo er eine rechtswissenschaftliche Ausbildung absolvierte und Mitglied mehrerer Studentenverbindungen war, entwickelte er sich zu einem ausgezeichneten Konzertpianisten. Er verehrte den großen Robert Schumann, mit dem er später auch mehrere Jahre lang korrespondierte. Es waren dann auch nicht seine eher überschaubaren Leistungen im preußischen Verwaltungsdienst, in den er nach seinem Studium eintrat, sondern seine musikalischen Fähigkeiten, dank derer er Bismarck kennenlernte. Im August 1846 gab er in Berlin auf Einladung Johanna von Puttkamers ein kleines Hauskonzert, das auch deren Verehrer Bismarck besuchte. Anschließend entwickelte sich zwischen Keudell und der Gastgeberin eine Freundschaft, die sich bald auch auf Bismarck, der Johanna ein Jahr später heiratete, ausdehnte. Als Letzterer zwischen 1852 und 1859 Preußen im Bundestag des Deutschen Bundes vertrat, war Keudell regelmäßig Gast der Familie. Während der drei Jahre, die Bismarck anschließend als preußischer Gesandter am preußischen Zarenhof diente, reiste Keudell gar zwei Mal für einen Besuch nach St. Petersburg.6
1862 bescherte ihm