Politisch aktiv blieb er aber auch weiterhin. Sein Mandat im Abgeordnetenhaus behielt er bis 1893. Zwei Jahre danach wurde er zum Mitglied des preußischen Herrenhauses ernannt. Dort leitete er bis kurz vor seinem Tod die Haushaltskommission, den mit Abstand wichtigsten Ausschuss der Kammer. Neben seiner politischen Tätigkeit engagierte er sich außerdem in verschiedenen unternehmerischen Projekten. So war er nicht nur an der ersten Zuckerfabrik in Thüringen beteiligt, sondern auch an der Versicherungsgesellschaft Thuringia, die zu den Pionieren des deutschen Unfallversicherungswesens gehörte. Seinen Lebensabend verbrachte er mit seiner Frau Juliet Maria Souchay de la Duboissière (1835–1921), der Tochter einer reichen hugenottischen Kaufmannsfamilie aus der Nähe von Manchester, die er 1864 geheiratet hatte und über die er mit Alfred Weber, Theodor Mommsen und Felix Mendelssohn-Bartholdy verschwägert war. Mit ihr reiste er immer wieder nach England, aber auch nach Osteuropa. Gemeinsam hatten sie zwei Söhne, den Verwaltungsjuristen Otto Lucius von Ballhausen (1867–1932) und den Diplomaten Hellmuth Lucius von Stoedten (1869–1934), von dem später noch die Rede sein wird. Robert starb 1914 wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf dem nördlich von Erfurt gelegenen Rittergut Klein-Ballhausen, das ihm einst sein Vater geschenkt hatte.10
Sowohl Ballhausen als auch Keudell waren, was ihre Interessen angeht, nicht gerade typische Vertreter der höheren Beamtenschaft des Kaiserreiches. Ein weitgereister Abenteurer und ein hochbegabter Musikus waren in den Ministerialapparaten Preußens und des Reiches eher exotisch. Hinsichtlich mehrerer anderer Aspekte waren ihre beiden Lebenswege allerdings geradezu idealtypisch für die politischen Eliten des Kaiserreiches. So liest sich Ballhausens Biographie – großbürgerliche Herkunft, Eintritt in die Armee, Aufstieg durch die Offiziersränge, Nobilitierung und Aufnahme in das Herrenhaus auf Lebenszeit – wie ein Paradebeispiel für die „gewöhnlich überzogen vorgetragene marxistische These der Feudalisierung und Militarisierung des Bürgertums“, wie Ulf Morgenstern in einem Aufsatz über den Memoirenschreiber betont hat. Keudells Karriereverlauf steht hingegen beispielhaft für das die Reichsgründung prägende Patronagesystem der preußischen Monarchie und die danach stattfindende Professionalisierung des Staatsbetriebes im Kaiserreich. Konnte der mäßige Jurist trotz seiner fehlenden Erfahrung in politischen Fragen in den 1860er Jahren noch einfach auf Wink des neuen Ministerpräsidenten ins unmittelbare Zentrum der Macht vorrücken, vermochte er sich zwanzig Jahre später auch mit der anhaltenden Unterstützung Bismarcks nicht gegen die Funktionseliten im Auswärtigen Amt durchzusetzen, die ihm mit Hinweis auf seine vermeintlich mangelnde Qualifikation mehrmals eine Beförderung auf einen hohen Berliner Posten verbauten.11
Die Bedeutung von persönlichen Netzwerken für das politische System der Bismarckzeit spiegelt sich auch in Ballhausens Vita wider. Die Freundschaft zum Kanzler wäre ohne den gemeinsamen Kontakt zur Familie Becker wohl nie entstanden. Einige der mächtigsten Männer des preußischen Ministerialapparates lernte Ballhausen bereits als Teil der preußischen Ostasienexpedition kennen, nicht zuletzt deren Leiter Friedrich zu Eulenburg, der 1862 nach dem erfolgreichen Abschluss der Mission preußischer Innenminister wurde und diesen Posten bis 1878 bekleidete. Außerdem bildeten die in den beiden wichtigsten Parlamenten des Reiches sitzenden Gebrüder Lucius selbst eine mächtige politische Seilschaft, die quer durch das Parteienspektrum reichte. Insofern war jeder der vier wohlhabenden Unternehmersöhne ein Beispiel für die Verquickung von wirtschaftlichen und politischen Eliten im Kaiserreich, die vor allem in der Geschichtsschreibung der DDR stark kritisiert worden ist. Schließlich und endlich stehen der Abenteurer mit dem Medizinkoffer und der Diplomat mit dem Klavier auch exemplarisch für eine ganze Generation von Deutschen, die einerseits transnational agierten, sprich: viel und weit reisten, Freundschaften oder gar Ehen mit Ausländern schlossen und sich wie selbstverständlich auf internationaler Bühne bewegten, andererseits aber glühende Nationalisten waren.12
Die Erinnerungen, die Keudell und Ballhausen jeweils über Bismarck abfassten, gehören zu den Standardquellen der Forschung zum „Eisernen Kanzler“. Dennoch beziehungsweise gerade deswegen lohnt es sich, vor der Lektüre darüber nachzudenken, um welche Art von Quellen es sich eigentlich handelt und was sie zu unserem Bild von Bismarck eigentlich beitragen können. Keudell veröffentlichte seine Erinnerungen an Fürst und Fürstin Bismarck im Herbst 1901, also knapp drei Jahre nach dem Tod des Altkanzlers. Zu diesem Zeitpunkt waren die ersten beiden Bände von Bismarcks autobiographischen Gedanken und Erinnerungen, die 1898 posthum erschienen waren, längst ein Bestseller. Ausgewählte Briefe, Reden und Aktenstücke waren schon 1890 als Gesammelte Werke in vier Bänden publiziert worden. Außerdem waren in den Vorjahren verschiedene Teile von Bismarcks Privatkorrespondenz erschienen, allen voran die 1900 veröffentlichten Briefe an seine Braut und Gattin. Keudell fügte also einem rasch wachsenden Korpus an öffentlich zugänglichen Bismarckquellen ein weiteres Stück hinzu. Die Motivation dafür war angesichts der hohen Verkaufszahlen der genannten Publikationen sicherlich zumindest teilweise finanzieller Natur. Auch und vor allem scheint Keudell aber die Tatsache umgetrieben zu haben, wie er in seinem Vorwort betont, dass „die Zeugen [des] Wirkens [Bismarcks], welche ihm als Abgeordneten, Gesandten und jugendlichen Minister nahe standen, […] nach und nach fast alle verstummt [waren], ohne Berichte über ihn zu hinterlassen“. Deswegen sah er an sich „die Aufgabe [herantreten], zu erzählen, was [er] damals [im] Hause und […] Dienste [Bismarcks] erlebt habe“.13
Ballhausens Bismarck-Erinnerungen sind unter ganz anderen Vorzeichen entstanden. Während seiner Zeit als Abgeordneter und Minister führte der Tausendsassa akribisch Tagebuch über den Berliner Regierungsbetrieb. In diesen Aufzeichnungen spielte sein Chef und Freund Bismarck naturgemäß eine Hauptrolle. Nach Bismarcks Tod fasste Ballhausen 1899 daher den Entschluss, wie er in einer Vorbemerkung zu den Erinnerungen beschreibt, „die persönlichen Erinnerungen, welche [er] in einer langen Reihe von Jahren im Verkehr mit [Bismarck] gesammelt habe, an der Hand [dieser] Tagebuchnotizen und Briefe zusammenzufassen“. Um dies ohne Abstriche tun zu können, dachte er dabei von Anfang an „nicht daran […], [diese Erinnerungen] zu [seinen] Lebzeiten zu publizieren“. Diesen Luxus konnte er sich relativ einfach leisten, da er ob seines beträchtlichen Privatvermögens an einem finanziellen Gewinn aus seinen Begegnungen mit Bismarck kein großes Interesse haben musste. Nach seinem Tode 1914 veröffentlichte sein Sohn Hellmuth die Manuskripte sechs Jahre später. Dabei betonte er in einer Herausgebernotiz, dass der Druck schon vor dem Ableben seines Vaters fertiggestellt worden sei, da dieser so habe sicherstellen wollen, dass „nachträglich keinerlei Änderungen an seinen Aufzeichnungen mehr vorgenommen“ werden würden. Nur ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkrieges erschienen, wurde das Buch daraufhin bald Teil der „Hintergrunderzählung […] des Bismarck-Kultes“, die „in den 1920er Jahren in protestantisch-nationalen Milieus als Kompensationslektüre für den Verlust der Großmachtstellung des Deutschen Reiches diente und unter Verweis auf die Fehler der Wilhelminischen Epoche die Leistungen der Reichsgründungszeit betonte“, wie Ulf Morgenstern erläutert hat.14
Diese beiden Entstehungsgeschichten produzierten zwei sehr unterschiedliche Quellen über Bismarck. Bei Keudells Erinnerungen handelt es sich um einen retrospektiven Bericht, den dieser mit verschiedenen Dokumenten durchsetzte, um ihn authentischer zu machen. Darunter sind neben Ausschnitten aus verschiedenen Reden Bismarcks vor allem zahlreiche Briefe, die dessen Gattin im Laufe der Jahre an ihren engen Vertrauten Keudell schickte. Diese persönliche Korrespondenz habe er in seine Ausführungen aufgenommen, so Keudell in seinem Vorwort, da sie „Aufschlüsse über manche weniger bekannte Erlebnisse“ Bismarcks gebe und „viele Seelen zu herzlicher Verehrung“ anregen werde. Vor allem letztere Bemerkung ist aufschlussreich. Denn sie zeigt, wie sehr Keudell seinen Bericht mit Blick auf die direkt geplante Veröffentlichung und ihre Wirkung auf das sich langsam ausformende Bild der Öffentlichkeit über den verstorbenen Kanzler schrieb. Anders gesagt: Beim Abfassen seiner Erinnerungen an die Vergangenheit hatte Keudell mindestens ein Auge auf die Gegenwart. Dementsprechend erstellte er eine bunte Collage aus persönlichen Erlebnissen, die er zum Beispiel durch die häufige Verwendung der direkten Rede äußerst lebhaft, ja stellenweise sogar emotional schildert.15
Ballhausens Erinnerungen sind dagegen kein nachträglicher Report,