Die neuen Bewegungen der radikalen Rechten, die sich zwar auf ältere Traditionen der Intoleranz beriefen, diese jedoch völlig umgewandelt haben, wirkten vor allem auf die unteren und mittleren Schichten der europäischen Gesellschaften attraktiv. Ihre Politik wurde rhetorisch und theoretisch von nationalistischen Intellektuellen formuliert, die erstmals in den 1890er Jahren in Erscheinung getreten waren. Sogar der Begriff »Nationalismus« war erst in diesem Jahrzehnt geprägt worden, um diese neuen Sprecher der Reaktion zu definieren. Die militante Mittel- bzw. untere Mittelschicht wandte sich vor allem in jenen Ländern der radikalen Rechten zu, in denen die Ideologien von Demokratie und Liberalismus nicht vorherrschten; und dieser Trend fand sich vor allem innerhalb solcher Gruppen, die sich mit diesen Ideologien nicht identifizierten, also hauptsächlich in Ländern, die von der Französischen Revolution oder einem Äquivalent nicht beeinflußt worden waren. Denn tatsächlich konnte die generelle Hegemonie von revolutionären Traditionen in den Kernländern des westlichen Liberalismus – Großbritannien, Frankreich, USA – die Entwicklung einer faschistischen Massenbewegung von Belang verhindern. Es wäre ein Fehler, den Rassismus der amerikanischen Populisten oder den Chauvinismus der französischen Republikaner mit dem prototypischen Faschismus zu verwechseln – denn diese Bewegungen entstammten der Linken.
Das hieß nun nicht, daß dort, wo die Hegemonie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kein Hindernis mehr war, alte Instinkte nicht mit neuen politischen Slogans verbrämt auftauchen konnten. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, daß sich die Hakenkreuzaktivisten in den österreichischen Alpen zum großen Teil aus jenen provinziellen Berufsständen rekrutierten, die einst die regionalen Liberalen gebildet hatten – Tierärzte, Landvermesser, usw. –, also eine gebildete und emanzipierte Minderheit in einem Umfeld, das vom bäuerlichen Klerikalismus geprägt war. Dem vergleichbar ist, daß nach der Auflösung der klassischen proletarischen Arbeiterorganisationen und sozialistischen Bewegungen im späten 20. Jahrhundert dem instinktiven Chauvinismus und Rassismus vieler Arbeiter freies Spiel gegeben wurde. Bis dahin hatten sie einfach deshalb gezögert, ihre Ressentiments – gegen die sie ganz und gar nicht immun gewesen waren – öffentlich zu artikulieren, weil sie sich noch loyal gegenüber ihren Parteien verhielten, denen diese Bigotterie zutiefst zuwider war. Seit den sechziger Jahren sind Xenophobie und politischer Rassismus vor allem in der Arbeiterschicht verbreitet. Doch in den Jahrzehnten, in denen der Faschismus ausgebrütet wurde, waren solche Tendenzen hauptsächlich unter jenen zu finden, die sich bei der Arbeit nicht die Hände schmutzig machen mußten.
Die Mittelschicht und das Kleinbürgertum bildeten während der ganzen Phase des faschistischen Aufstiegs das Rückgrat seiner Bewegungen. Das wird sogar von jenen Historikern nicht bestritten, die ansonsten bemüht sind, den Konsens »jeder Analyse über die Nazigefolgschaft, die zwischen 1930 und 1980 gemacht wurde«11 zu revidieren. Um nur einen Fall unter den vielen Untersuchungen über die Gefolgschaft und Unterstützung von solchen Bewegungen herauszugreifen: Österreich in den Zwischenkriegsjahren. Unter den Nationalsozialisten, die bei den Gemeinderatswahlen 1932 in Wien gewählt wurden, waren 18 Prozent Selbständige, 56 Prozent Angestellte, Büroarbeiter und öffentlich Bedienstete und 14 Prozent Arbeiter. Unter den Nazis, die im selben Jahr in die österreichischen Landtage gewählt wurden, waren 16 Prozent Selbständige und Bauern, 51 Prozent Angestellte und vergleichbare Berufe und 10 Prozent Arbeiter.
Das heißt jedoch nicht, daß faschistische Bewegungen keine genuine Unterstützung bei der armen arbeitenden Bevölkerung gefunden hätten. Wie die Zusammensetzung der Kader in der rumänischen Eisernen Garde auch gewesen sein mag, diese wurde jedenfalls auch von der armen Landbevölkerung unterstützt. Die Wähler der ungarischen Pfeilkreuzler stammten weitgehend aus der Arbeiterklasse (die Kommunistische Partei war illegal, und die Sozialdemokraten, immer schon eine kleine Partei, zahlten den Preis für ihre Tolerierung durch das Horthy-Regime). Nach der Niederlage der österreichischen Sozialdemokratie im Jahr 1934 wechselten Arbeiter, vor allem in der Provinz, in großer Zahl zu den Nationalsozialisten über. Im übrigen haben sich weit mehr sozialistische und kommunistische Arbeiter den Faschisten angeschlossen – als diese erst einmal zur legitimen Regierung geworden waren, wie in Italien und Deutschland –, als die Linke wahrhaben möchte. Dennoch setzte sich die eigentliche Wählerschaft der faschistischen Bewegungen aus der Mittelschicht zusammen12 – denn die traditionsbewußten Elemente der Landbevölkerung anzusprechen, hatten die Faschisten doch einige Mühe (es sei denn, sie erhielten Rückendeckung von bestimmten Organisationen, wie im Falle Kroatiens von der römisch-katholischen Kirche); hinzu kam, daß die Ideologien und Parteien der Arbeiterorganisationen dem Faschismus grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden.
Wie weit die Attraktivität des Faschismus ursprünglich in die Mittelschicht hineinwirkte, ist eine offene Frage. Sicher hatte er große Anziehungskraft auf die Mittelschichtsjugend. In den Jahren zwischen den Kriegen tendierten nämlich vor allem die Studenten des kontinentalen Europa notorisch zur Ultrarechten. 1921 (also noch vor dem »Marsch auf Rom«) machten Studenten 13 Prozent der Mitglieder der italienischen faschistischen Bewegung aus. In Deutschland waren bereits 1930 zwischen fünf und zehn Prozent aller Studenten Parteimitglieder, also zu einer Zeit, als die überwältigende Mehrheit der zukünftigen Nazis noch gar keine Notiz von Hitler genommen hatte.13 Aber auch ehemalige Offiziere aus der Mittelschicht waren stark vertreten – vor allem jener Typus, der den Großen Krieg mit all seinen Greueln als Gipfel seiner persönlichen Ruhmestaten erlebt hatte, von dem aus er nur noch das enttäuschende Flachland eines künftigen Lebens als Zivilist erblickte. Auf diese Segmente der Mittelschicht hat der faschistische Aktivismus natürlich besonders anziehend gewirkt. Und die radikale Rechte hat wohl ganz allgemein um so stärkere Anziehungskraft auf diese Offiziere ausgeübt, je geringer das Ansehen war, das von einem konventionellen Mittelklasseberuf erwartet wurde, und je bedrohlicher der gesellschaftliche Rahmen bröckelte, von dem man meinte, er halte ihr soziales Gefüge zusammen. In Deutschland bewirkte der doppelte Zusammenbruch – die große Inflation, die den Geldwert auf Null absenkte, und die Weltwirtschaftskrise – noch zusätzlich, daß sich sogar solche Gruppen der Mittelschicht radikalisierten, deren Arbeitsplätze durchaus sicher zu sein schienen, also beispielsweise mittlere und höhere Beamten. Unter weniger traumatischen Bedingungen hätten sie wohl auch weiterhin zufrieden als konservative Patrioten alten Stils gelebt und Kaiser Wilhelm II. nachgetrauert, aber dennoch willig ihre Pflicht gegenüber einer Republik erfüllt, deren Oberhaupt der Generalfeldmarschall