Die konservativen Mittelschichten waren vor allem wegen der spezifischen Art und Weise, in der in der Zwischenkriegszeit die Linien im politischen Kampf gezogen worden waren, zu potentiellen Anhängern des Faschismus und schließlich zu Überläufern geworden. Die Bedrohung der liberalen Gesellschaft und ihrer Werte schien ausschließlich von rechts zu kommen, die Bedrohung der sozialen Ordnung hingegen von links. Menschen aus der Mittelschicht neigten dazu, sich je nach ihren Ängsten für eine bestimmte Politik zu entscheiden. Traditionelle Nationalkonservative sympathisierten für gewöhnlich mit faschistischen Demagogen und waren bereit, sich mit ihnen gegen den Feind zu verbünden. Der italienische Faschismus hatte in den zwanziger und selbst noch in den dreißiger Jahren eine durchaus gute Presse, abgesehen natürlich vom liberalen und linken Spektrum.
»Wenn es das kühne Experiment des Faschismus nicht gegeben hätte, so wäre das Jahrzehnt hinsichtlich konstruktiver Staatskunst nicht fruchtbar gewesen.« So schrieb John Buchan, der berühmte britische Konservative und Thrillerautor. (Die Vorliebe für das Schreiben von Thrillern ging, leider, nur selten mit linker Überzeugung einher. Graves/Hodge, 1941, S. 248.)
Hitler wurde durch eine Koalition der nationalkonservativen Rechten an die Macht gebracht, die seine Bewegung später schlucken sollte. Und General Franco nahm die damals relativ unbedeutende spanische Falange in seine Bewegung auf, weil er eine Union der gesamten Rechten gegen die Schreckgespenster von 1789 und 1917 vertrat, zwischen denen er keinen großen Unterschied machte. Zu seinem Glück trat er dann nicht an Hitlers Seite in den Zweiten Weltkrieg ein, entsandte jedoch immerhin einen Freiwilligentrupp, die »Blaue Division«, um Seite an Seite mit den Deutschen gegen die gottlosen Kommunisten in Rußland zu kämpfen. Marschall Pétain war sicher weder Faschist noch ein Sympathisant der Nazis. Nur war einer der Gründe, weshalb es nach dem Krieg so schwierig sein sollte, zwischen wirklichen französischen Faschisten und prodeutsch eingestellten Kollaborateuren einerseits und der Anhängerschaft von Marschall Pétains Vichy-Regime andererseits zu unterscheiden, daß es gar keine klaren Grenzen gegeben hat. Ein Kontinuum verband die, deren Väter Dreyfus, die Juden und die verfluchte Republik gehaßt hatten – einige unter den Vichy-Figuren waren alt genug, um noch selbst dazuzugehören –, und die kaltblütigen Zeloten des Hitlerschen Europa. Die »natürliche« Allianz der Rechten zwischen den Kriegen bestand demnach also aus traditionellen Nationalkonservativen – unter Einbeziehung der Reaktionäre alten Stils – bis hin zu den äußersten Randgruppen der faschistischen Pathologie. Die traditionellen Kräfte des Konservatismus und der Konterrevolution waren zwar stark, aber oft träge. Der Faschismus bot ihnen nicht nur Dynamik, sondern, was vielleicht noch wichtiger war, auch die Möglichkeit eines Sieges über die Mächte der Zersetzung. (War nicht das sprichwörtliche Argument für ein faschistisches Italien, Mussolini würde »dafür sorgen, daß die Züge wieder pünktlich fahren«?) So wie die Dynamik des Kommunismus anziehend wirkte auf die orientierungs- und steuerlose Linke nach 1933, so ließen seine Erfolge den Faschismus, vor allem nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, als Woge hin zur Zukunft erscheinen. Die Tatsache, daß der Faschismus dieser Zeit sogar vehement – wenn auch nur kurzfristig – die politische Bühne des konservativen Großbritannien betreten konnte, beweist die Kraft dieses »Demonstrationseffekts«. Und daß er nicht nur einen der prominentesten Politiker des Landes, sondern auch die Unterstützung eines bedeutenden Pressezaren für sich gewinnen konnte, ist von größerer Bedeutung als die Tatsache, daß die Bewegung von Sir Oswald Mosley bald schon von respektablen Politikern desavouiert wurde und daß Lord Rothermeres Daily Mail bald schon von der Unterstützung der British Union of Fascists wieder Abstand nehmen sollte. Großbritannien wurde in der ganzen Welt noch immer mit vollem Recht als Vorbild für politische und gesellschaftliche Stabilität angesehen.
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Der Aufstieg der radikalen Rechten nach dem Ersten Weltkrieg war zweifellos eine Antwort auf die Gefahr – und in der Tat auch auf die Realität – einer mächtigen sozialen Revolution und einer starken Arbeiterklasse, und besonders auf die Oktoberrevolution und den Leninismus. Ohne diese hätte es keinen Faschismus gegeben. Demagogische rechte Ultras hatten zwar seit Ende des 19. Jahrhunderts in einer ganzen Reihe von europäischen Staaten politisch ihre Stimme erhoben und sich aggressiv gebärdet, doch bis 1914 hatte man sie mehr oder weniger überall unter Kontrolle halten können. So gesehen haben die Apologeten des Faschismus wahrscheinlich recht, wenn sie behaupten, Lenin habe Mussolini und Hitler heraufbeschworen. Aber es ist völlig ungerechtfertigt, sich mit der Behauptung reinwaschen zu wollen – wie es einige deutsche Historiker in den achtziger Jahren versucht haben –, daß die faschistische Barbarei nur ein Abbild der Barbarei gewesen sei, die die Russische Revolution zuvor verübt habe, und daß der Faschismus diesen Vorgänger nur imitiert habe.15
Die These, daß der Aufstieg der Rechten im wesentlichen nur als Reaktion auf die revolutionäre Linke möglich gewesen sei, muß allerdings in zweierlei Hinsicht modifiziert werden. Erstens wird dabei grundsätzlich der Einfluß unterschätzt, den der Erste Weltkrieg auf die Mittel- bzw. untere Mittelschicht und, nach dem November 1918, auch auf jene nationalistisch eingestellten Soldaten und jungen Männer ausgeübt hat, die nicht vergessen konnten, daß man sie mit dem Ende des Krieges auch ihrer Chancen zum Heroismus beraubt hatte. Der sogenannte »Frontsoldat« sollte noch eine wichtige Rolle in der Mythologie der radikalen Rechten spielen – Hitler selbst war einer von ihnen. Außerdem sollte er die Basis für die ersten Gruppen von ultranationalistischen, gewalttätigen Schwadronen bilden, wie die italienischen squadristi und die deutschen Freikorps, deren Offiziere im Frühjahr 1919 die deutschen Kommunistenführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordeten. 57 Prozent der italienischen Faschisten der ersten Stunde waren ehemalige Soldaten. Wie gesagt, der Erste Weltkrieg war eine Maschine zur Brutalisierung der Welt gewesen, und solche Männer sonnten sich in dem Ruhm, ihrer latenten Brutalität nun freien Lauf lassen zu können.
Das bekannte Engagement der Nachkriegslinken gegen Krieg und Militarismus und der Abscheu im Volk gegen das Massentöten im Ersten Weltkrieg dürfen uns nicht dazu verleiten, das Auftauchen einer zwar relativ kleinen, aber absolut gesehen ziemlich großen Minorität zu unterschätzen, für die das Kampferlebnis (sogar unter den Bedingungen von 1914–18) zur wichtigsten und prägendsten Lebenserfahrung geworden war und für die eine Uniform und Disziplin, Selbstaufopferung oder die Opferung anderer, Blut, Waffen und Gewalt das Leben eines Mannes erst wirklich lebenswert machten. Sie schrieben zwar nicht viele Bücher darüber, aber einige sind (vor allem in Deutschland) erschienen. Diese Rambos der damaligen Zeit waren die geborenen Rekruten für die radikale Rechte.
Die zweite Modifikation dieser These muß lauten, daß der Aufstieg der Rechten keine Reaktion auf den Bolschewismus an sich war, sondern auf alle Bewegungen, besonders auf die organisierte Arbeiterklasse, die die bestehende Gesellschaftsordnung bedrohten oder für deren Zusammenbruch verantwortlich gemacht werden konnten. Lenin diente dafür eher als Symbol, als daß er die Realität dieser Bedrohung verkörperte; und in den Augen der meisten Politiker wurde diese Bedrohung auch weniger durch die sozialistischen Arbeiterparteien an sich repräsentiert – deren Führer relativ moderat waren – als durch die wachsende Macht, Selbstsicherheit und Radikalität der Arbeiterklasse selbst: Denn nur sie verhalf den alten sozialistischen Parteien zu neuer politischer Macht und machte sie zu unverzichtbaren Stützen eines liberalen Systems. Es war ja kein Zufall, daß fast überall in Europa die zentrale Forderung aller sozialistischen Kampagnen seit 1889 eben in der allerersten Nachkriegszeit durchgesetzt werden konnte: der Achtstundentag.
Es war also mehr die Bedrohung, die in der wachsenden Macht der Arbeiterschaft lag, die das Blut der Konservativen gefrieren ließ, als die bloße Verwandlung von Gewerkschaftsführern und Oppositionssprechern zu Ministern, obwohl auch das schon bitter genug war, gehörten diese ja per definitionem