Außerhalb von Europa bot sich ein ganz anderes Bild. Nordamerika bewegte sich ziemlich deutlich nach links. Die USA experimentierten unter ihrem neuen Präsidenten Franklin D. Roosevelt (1933–1945) mit dem relativ radikalen New Deal; Mexiko versuchte unter seinem Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934–40) die Dynamik der frühen mexikanischen Revolution wiederzubeleben, vor allem in Sachen Agrarreform; und in den krisengeschüttelten Prärien von Kanada formierten sich recht mächtige sozialpolitische Bewegungen: Social Credit und die Cooperative Commonwealth Federation (die heutige New Democratic Party), die nach den Kriterien der dreißiger Jahre beide links waren.
Den politischen Einfluß der Krise auf Lateinamerika zu beschreiben ist weniger einfach. Obwohl dort alle Regierungen und herrschenden Regime wie Dominosteine kippten (nachdem der Zusammenbruch des Weltmarktpreises für ihre wichtigsten Exportgüter ihre Finanzen ruiniert hatte), fielen sie bei weitem nicht alle in die gleiche Richtung. Allerdings neigten sie sich zuerst einmal mehr zur linken als zur rechten Seite. Argentinien trat nach einer langen Periode mit zivilen Regierungen in eine Ära der Militärherrschaft ein, und das Land wandte sich – obwohl faschistisch gesinnte Führer wie General Uriburu (1930–32) bald schon abgedrängt wurde – eindeutig den Traditionen der Rechten zu. Chile hingegen nutzte die Krise, um Carlos Ibáñez zu stürzen (1927–31), einen der wenigen aus dem Militär hervorgegangenen diktatorischen Präsidenten, die es vor der Ära von General Pinochet in diesem Staat gegeben hat, und stürmte nach links; 1932 erlebte das Land für kurze Zeit eine »Sozialistische Republik« unter einem Obersten mit dem prächtigen Namen Marmaduke Grove und begründete eine erfolgreiche Volksfront nach europäischem Muster (siehe Fünftes Kapitel). In Brasilien setzte die Krise der oligarchischen »alten Republik« von 1889–1930 ein Ende und brachte Getúlio Vargas an die Macht, den man bestenfalls als Nationalpopulisten beschreiben kann (siehe Seite 175). Er sollte die Geschichte seines Landes in den folgenden zwanzig Jahren bestimmen. Der Umbruch in Peru vollzog sich sehr viel entschiedener zugunsten der Linken, obwohl es der APRA (Revolutionäre Amerikanische Volksallianz) – der einflußreichsten unter den neuen Parteien und einer der wenigen erfolgreichen Massenparteien der Arbeiterklasse nach europäischem Muster in der westlichen Hemisphäre40 – nicht gelang, ihre revolutionären Ambitionen (1930–32) zu verwirklichen. Noch deutlicher war der Ruck nach links in Kolumbien. Die Liberalen übernahmen unter einem reformwilligen Präsidenten, der stark von Roosevelts New Deal beeinflußt war, nach beinahe dreißig Jahren konservativer Regierung das Ruder. Aber am deutlichsten war der radikale Wechsel im nordamerikanischen Inselprotektorat Kuba, wo es dem Volk nach Roosevelts Amtseinführung möglich geworden war, einen verhaßten und selbst nach damals herrschenden kubanischen Kriterien ungewöhnlich korrupten Präsidenten zu stürzen.
Im riesigen Areal der kolonialisierten Welt führte die Krise zu einer merklichen Zunahme der antiimperialistischen Aktivität, was zum Teil daran lag, daß die Rohstoffpreise gefallen waren, von denen Kolonialwirtschaften (zumindest deren öffentliche Finanzen und Mittelklassen) abhängig waren, und zum Teil daran, daß die Mutterländer eiligst Schutzvorkehrungen für ihre Landwirtschaft und ihren Arbeitsmarkt trafen, ohne Rücksicht auf die Auswirkungen, die das auf die Kolonien haben konnte. Europäische Staaten, die ihre wirtschaftlichen Entscheidungen von innenpolitischen Faktoren abhängig machten, konnten auf lange Sicht keine Imperien mit unendlich komplexen Produktionsinteressen zusammenhalten41 (siehe dazu Siebentes Kapitel).
Deshalb markierte die Weltwirtschaftskrise im größten Teil der kolonialisierten Welt den eigentlichen Beginn der politischen und sozialen Unruhen im Innern, die sich selbst dort gegen die (Kolonial-) Regierungen richteten, wo nationalistisch ausgerichtete politische Bewegungen erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auftauchen sollten. Soziale Unruhen herrschten in (Britisch-)Westafrika wie in der Karibik. Sie entstanden als unmittelbare Folge der Krise, in die der Export regionaler Produkte geraten war (Kakao und Zucker). Und auch in Ländern, in denen sich bereits eine antikolonialistische nationale Bewegung entwickelt hatte (und vor allem dort, wo die Massen politisch agitiert wurden), brachten die Depressionsjahre eine Verschärfung des Konflikts. Zur gleichen Zeit konnte sich die Muslimbruderschaft in Ägypten etablieren (1928 gegründet), und die indischen Massen konnten von Gandhi ein weiteres Mal mobilisiert werden (1931) (siehe Siebentes Kapitel). Vielleicht muß man sogar den Sieg der republikanischen Ultras unter de Valera bei den irischen Wahlen von 1932 als eine verspätete antikolonialistische Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise ansehen.
Wahrscheinlich wird die Globalität der Weltwirtschaftskrise und die besondere Energie ihrer Auswirkungen am besten mit einem Überblick über die effektiv weltweiten politischen Unruhen deutlich, die sich innerhalb von nur Monaten oder wenigen Jahren aus dieser Krise ergaben – von Japan bis Irland, von Schweden bis Neuseeland, von Argentinien bis Ägypten. Doch der Grad ihrer Auswirkungen sollte nicht nur, oder hauptsächlich, an den kurzfristigen politischen Effekten gemessen werden, so dramatisch diese auch oft waren. Es war eine Katastrophe, die alle Hoffnungen auf eine Wiederherstellung der Wirtschaft und der Gesellschaft des »Langen 19. Jahrhunderts« zunichte machte. In der Zeit von 1929–33 hatte sich eine tiefe Schlucht aufgetan, die eine Rückkehr ins Jahr 1913 nicht nur unmöglich, sondern schlechterdings undenkbar machte. Der altmodische Liberalismus war tot oder schien dem Untergang geweiht, und nur noch drei Optionen wetteiferten um die intellektuelle und politische Vorherrschaft. Marxistischer Kommunismus hieß die eine. Immerhin schienen sich die Vorhersagen von Marx nun in der Tat zu bestätigen, wie sogar der American Economic Association 1938 mitgeteilt wurde.42 Und die Sowjetunion, was noch viel beeindruckender war, schien gegen die Katastrophen der Weltwirtschaftskrise immun zu sein. Die zweite Option hieß: ein Kapitalismus, der nicht mehr an dem Glauben klebte, daß die freie Marktwirtschaft das einzig Wahre sei, und der durch eine Art heimlicher Vermählung oder ständiger Lebensbeziehung mit der moderaten Sozialdemokratie der nichtkommunistischen Arbeiterbewegung reformiert werden würde; nach dem Zweiten Weltkrieg sollte sich diese Version in der Tat als die wirkungsvollste erweisen. Doch in ihren ersten Ansätzen war diese Ehe weniger als bewußtes Programm oder als alternative Politik entstanden, sondern aus dem Gefühl, daß man, sobald die Weltwirtschaftskrise erst einmal überwunden wäre, niemals wieder eine neue zulassen dürfe. Aber vielleicht war sie auch von einer gewissen Experimentierfreudigkeit geprägt, die durch das offensichtliche Versagen des klassischen Liberalismus der freien Marktwirtschaft stimuliert worden war. So war beispielsweise die Politik der schwedischen Sozialdemokratie nach 1932 eine bewußte Reaktion – jedenfalls nach Meinung von Gunnar Myrdal, einem ihrer führenden Architekten – auf die Mißerfolge jener ökonomischen Orthodoxie, von der die unglückselige britische Labour-Regierung in den Jahren 1929–31 geprägt war. Eine Alternative zur Theorie der mittlerweile bankrotten freien Marktwirtschaft wurde gerade erst entwickelt. J. M. Keynes’ Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zins und des Geldes, die der einflußreichste Beitrag zu dieser Alternative werden sollte, wurde erst 1936 veröffentlicht. Und eine alternative Regierungspraxis, nämlich die auf der Berechnung des Nationaleinkommens basierende und makroökonomisch orientierte Lenkung einer Wirtschaft, entwickelte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg – obgleich Regierungen und andere staatliche Körperschaften schon seit den dreißiger Jahren (möglicherweise auch mit einem Auge auf die Sowjetunion) immer mehr dazu übergegangen waren, die Volkswirtschaft als Ganzes zu sehen und die Höhe ihrer Gesamtproduktion oder ihrer Gesamteinnahmen zu schätzen.43
Die dritte Option hieß Faschismus, den die Weltwirtschaftskrise zu einer Weltbewegung, ja zu einer Weltgefahr werden ließ. Die deutsche Version des Faschismus profitierte nicht nur von der Tradition der deutschen Intellektuellen, die (anders als die Österreicher) den neoklassischen Theorien des ökonomischen Liberalismus, die seit den 1880er Jahren zur internationalen