Viertes Kapitel
Der Untergang des Liberalismus
Mit dem Nazismus haben wir ein Phänomen vor uns, das sich kaum einer rationalen Analyse unterziehen läßt. Unter einem Führer, der in apokalyptischen Tönen von Weltmacht oder Weltzerstörung sprach, und einem Regime, das auf einer unsäglich abstoßenden Ideologie des Rassenhasses aufgebaut war, hat eines der kulturell und wirtschaftlich am weitesten entwickelten Länder Europas den Krieg geplant, einen Weltenbrand entfacht, der ungefähr 50 Millionen Menschen umbrachte, und Greueltaten begangen – die im organisierten Massenmord an Millionen von Juden kulminierten –, deren Art und Ausmaß die Vorstellungskraft überstiegen. Angesichts von Auschwitz erscheint das Erklärungsvermögen des Historikers tatsächlich erbärmlich.
Ian Kershaw (1993, S. 3–4)
Für das Vaterland zu sterben, für die Idee! … Nein, das ist eine Spinnerei. Sogar an der Front ist Töten alles … Sterben ist nichts, es existiert nicht. Niemand kann sich seinen eigenen Tod vorstellen. Töten ist alles. Das ist die Grenze, die man überschreiten muß. Ja, das ist ein konkreter Willensakt. Denn da sorgst du dafür, daß dein Wille in dem eines anderen Mannes lebt.
Aus dem Brief eines jungen Freiwilligen für die
Faschistische Soziale Republik von 1943–45 (Pavone, 1991, S. 431)
1
Was die Überlebenden des 19. Jahrhunderts im Katastrophenzeitalter von all den neuen Entwicklungen wahrscheinlich am meisten schockierte, war der Kollaps der Werte und Institutionen der liberalen Zivilisation, deren Existenz und Fortbestand über das Jahrhundert hinaus die Menschen in den »fortgeschrittenen« und »voranschreitenden« Teilen der Welt für selbstverständlich gehalten hatten. Zu diesen Werten gehörten: tiefes Mißtrauen gegen Diktatur und absolute Herrschaft; die Hinwendung zu einer konstitutionellen Regierungsform mit frei gewählten Regierungen und repräsentativen Parlamenten, die die Rechtsstaatlichkeit garantierten; und ein allgemein anerkannter Grundbestand von Bürger- und Freiheitsrechten, die Redefreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit einschlossen. Staat und Gesellschaft sollten durchdrungen sein von den Werten der Vernunft, des öffentlichen Diskurses, der Erziehung und der Wissenschaft und überzeugt von der Verbesserungsfähigkeit (wenn auch nicht notwendigerweise bis zur Vollkommenheit) der menschlichen Lebensbedingungen. Es schien völlig klar, daß sich diese Werte im Verlauf des Jahrhunderts durchgesetzt hatten und daß sie zur Weiterentwicklung auch in Zukunft bestimmt seien. Immerhin hatten bis 1914 sogar die letzten beiden Autokratien Europas, das russische Zarenreich und das Osmanische Reich, Konzessionen hinsichtlich einer konstitutionellen Regierungsform gemacht. Und der Iran hatte sich sogar die Verfassung von Belgien ausgeliehen.
Vor 1914 waren diese Werte nur von traditionalistischen Kräften angefochten worden, der römisch-katholischen Kirche etwa, die dogmatische Verteidigungsbarrikaden gegen die überlegenen Kräfte der Modernität um sich herum aufgebaut hatte; oder von ein paar intellektuellen Rebellen und Untergangspropheten, die fast immer aus »guten Familien« und alten Kulturzentren stammten und daher selbst Teil der Zivilisation waren, gegen die sie ankämpften; aber auch von den Kräften der Demokratie, die alles in allem noch ein neues und beunruhigendes Phänomen war (siehe Das imperiale Zeitalter). Die Ignoranz und Rückständigkeit der Massen, deren Fürsprecher sich dem Sturz der bürgerlichen Gesellschaft in einer sozialen Revolution verschrieben hatten, und die latente Irrationalität des Menschen, die so leicht von Demagogen ausgebeutet werden konnte, waren in der Tat alarmierend. Nur, gerade jene Massenbewegungen, die unter all den neu entstandenen am gefährlichsten schienen – nämlich die sozialistischen Arbeiterbewegungen –, hatten sich in Theorie wie Praxis genauso leidenschaftlich den Werten von Vernunft, Wissenschaft, Fortschritt, Erziehung und individueller Freiheit verschrieben wie die meisten anderen auch. Die Plakette der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands anläßlich des Tages der Arbeit zeigte auf der einen Seite Karl Marx und auf der anderen die amerikanische Freiheitsstatue. Diese Bewegungen traten gegen das Wirtschaftssystem und nicht gegen verfassungsmäßige Regierung und die Zivilgesellschaft an. Man könnte sich auch schwerlich vorstellen, daß eine Regierung, die von einem Victor Adler, einem August Bebel oder einem Jean Jaurès geleitet worden wäre, gleichzeitig das Ende »der Zivilisation, die wir kennen« bedeutet hätte. Doch die Möglichkeit einer solchen Regierung schien sowieso noch in weiter Ferne zu liegen.
Politisch waren die Institutionen der liberalen Demokratie klar auf dem Vormarsch, und die Eruption der Barbarei in den Jahren 1914–18 schien diesen Fortschritt nur noch beschleunigt zu haben. Abgesehen von Sowjetrußland waren alle Regime, die aus dem Ersten Weltkrieg emportauchten oder wiedererstanden, gewählte, repräsentative parlamentarische Regierungen – selbst in der Türkei. 1920 bestand das gesamte Europa westlich der sowjetischen Grenzen aus derartigen Staaten. Und die Basisinstitution einer liberalen, konstitutionellen Regierung, nämlich Parlaments- und/oder Präsidialwahlen, gehörte in dieser Zeit beinahe überall zur Welt der unabhängigen Staaten – obwohl wir in der Tat nicht vergessen sollten, daß die etwa fünfundsechzig unabhängigen Staaten der Zwischenkriegszeit primär ein europäisches und amerikanisches Phänomen waren, denn ein Drittel der Weltbevölkerung lebte unter einer Kolonialherrschaft. Die einzigen Staaten, in denen zwischen 1919 und 1947 keinerlei Wahlen stattgefunden haben, waren isolierte politische Fossile: Äthiopien, die Mongolei, Nepal, Saudi-Arabien und der Jemen. In fünf anderen Staaten fand während dieser Zeit nur eine Wahl statt, was nicht unbedingt für einen starken Hang zur liberalen Demokratie spricht: Afghanistan, Kuomintang-China, Guatemala, Paraguay und Thailand, damals noch Siam genannt. Die Tatsache, daß überhaupt eine Wahl abgehalten wurde, zeigt, daß dort zumindest theoretisch liberale politische Ideen Einzug gehalten hatten; doch der Hinweis auf die bloße Existenz des Wahlrechts oder die Häufigkeit von Wahlen besagt natürlich in der Tat nicht mehr, als daß diese Fakten bestanden. Der Iran, in dem seit 1930 sechs Wahlen, oder der Irak, in dem drei Wahlen stattfanden, hätte selbst nach damaligen Kriterien kaum als Bollwerk der Demokratie gegolten.
Repräsentative, gewählte Regime gab es also reichlich. Und doch befanden sich die liberalen politischen Institutionen in den zwanzig Jahren zwischen Mussolinis sogenanntem Marsch auf Rom (1922) und dem Höhepunkt des Erfolges der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg (1942) zunehmend und auf immer katastrophalere Weise auf dem Rückzug. 1918–20 wurden in zwei europäischen Staaten die Parlamente aufgelöst oder zur Bedeutungslosigkeit verdammt, 1920 in sechs weiteren Staaten, 1930 in neun weiteren; und während des Zweiten Weltkriegs konnte die deutsche Besatzung die konstitutionellen Kräfte von fünf weiteren Staaten zerstören. Die einzigen europäischen Staaten mit adäquaten politischen Institutionen, die ohne Unterbrechung während der gesamten Zwischenkriegszeit funktionieren konnten, waren Großbritannien, Finnland (mit knapper Not), der Freistaat Irland, Schweden und die Schweiz.
Auf dem amerikanischen Kontinent – der zweiten Region unabhängiger Staaten – war das Bild zwar farbiger, konnte jedoch auch kaum den Eindruck nähren, daß demokratische Institutionen generell auf dem Vormarsch gewesen seien. Die Liste der ununterbrochen konstitutionellen und nichtautoritären Staaten in der westlichen Hemisphäre ist kurz: Kanada, Kolumbien, Costa Rica, die USA und jene mittlerweile in Vergessenheit geratene »Schweiz von Südamerika«, die einzig wirkliche Demokratie, nämlich Uruguay. Das Beste, was wir von dieser Region sagen können, ist, daß ihre Bewegungen zwischen dem Ende des Ersten und Ende des Zweiten Weltkriegs manchmal nach rechts und manchmal nach links drifteten, während sich der Rest der Welt, der größtenteils aus Kolonien bestand und daher per definitionem undemokratisch