Die Vögel haben sich bereits erhoben
Und auch die Männer, die beim Frühlicht speisen.
Doch bringst du auch dem Sterblichen viel Schönes,
Der dich daheim ehrt, Göttin Morgenröte!12
Der Atharva-Veda enthält außer dem in Prosa abgefassten Sechstel Hymnen, die zu sehr verschiedenen Zeiten entstanden sein müssen. Im Mittelpunkt steht jedoch weithin die Magie: Bannsprüche und Zauberformeln sind darin zu finden, böse Dämonen sollen abgewehrt, Krankheiten kuriert, Vorteile der verschiedensten Art wie Liebesglück, Sieg im Kampf sollen erlangt werden. Daneben kommen ansatzweise schon erste philosophische Spekulationen zum Ausdruck, noch zaghaft, fragend, suchend, erste Morgendämmerung eines noch nicht ganz zur Entfaltung gekommenen mentalen Bewusstseins. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist der Hymnus an den Zeitgott Kala, der sich an die Zeit, also nicht mehr an eine sinnlich in Erscheinung tretende Naturmacht oder Naturgottheit, sondern an eine Abstraktion wendet; einige Verse daraus sollen hier mitgeteilt werden:
Der Zeitgott eilt, ein Ross mit sieben Zügeln,
Er altert nie und sieht mit tausend Augen.
Die Weisesten besteigen seinen Wagen,
Und alle Wesen ihm als Räder taugen.
Mit sieben Rädern, sieben Naben fährt er,
Unsterblichkeit ist Achse seinem Wagen,
Er bringt die Dinge alle zur Erscheinung,
Als erster Gott lässt er dahin sich tragen.
Auf seinem Wagen steht ein Krug zum Spenden,
Wir sehn ihn überall, wo wir auch wohnen,
Er spendet allen Wesen. Alle sagen:
Er ist der Herr der höchsten Himmelszonen.
Zustande bringt er alles, immer hat er
Als der Allüberwinder sich erwiesen;
Als Vater ist zugleich er Sohn geworden,
Drum gibt es keinen Mächtigern als diesen.13
Der Vedismus, die älteste Religion Indiens, war eine Volksreligion mit stark polytheistischer, ja pandämonistischer Prägung, ganz der Welt zugewandt, deren Güter als im höchsten Maße begehrenswert erschienen, und mit Göttern, die dem Weltganzen in geheimnisvoller Immanenz innewohnten. Aus diesem so ganz diesseitszugewandten Vedismus erwuchs im Laufe der Zeit die Frage nach dem Einen, die Hauptfrage der indischen Religion, die ihre Antwort zuletzt in einer Einheitsmystik findet. Aus der Schar der vielen Welt-Götter, die zunächst alle gleichwertig nebeneinanderstehen, heben sich allmählich einzelne große Göttergestalten heraus; dabei entsteht wie von allein die Frage, wer denn der größte aller Götter sei. Dies ist, religionsgeschichtlich gesehen, ein erster Schritt vom Polytheismus zum Monotheismus, der aus einer religiösen Einheitsahnung erwächst, indem er die vielen göttlichen Numina zu einer einzigen, universalen Göttergestalt zusammenwachsen lässt.
Im jüngeren Rig-Veda nimmt das göttliche Eine schon ausgesprochen unpersonale Züge an; es ist ein nur in mystischer Versenkung zu erlebendes göttliches All-Eines, nicht ein personaler Schöpfergott. Das Eine, von dem das folgende Gedicht handelt, ist nicht mehr Teil der Welt, sondern besteht vor allem Gewordenen, das aus ihm überhaupt erst hervorgeht. Die immer wiederkehrende Frage: „Wer unter den Devas (Göttern) ist es, den wir mit Opferguss ehren?“ besagt, dass hier der fromme Dichter fragt, welcher von den bekannten vedischen Göttern dem einen namenlosen „Gott über allen Göttern“ am ehesten entspricht. Es geht nicht bloß darum, wer der größte unter den Göttern ist, sondern hier hat die fromme Ahnung bereits erkannt, dass alle Götter nur ein Gott sind.
Am Anfang stieg empor das goldne Glanzkind,
Es war des Daseins eingeborner Meister;
Er trug die Erde, trug den Himmel droben:
Wer ist der Gott, den wir mit Opfern ehren?
Der uns das Leben gibt, der uns die Kraft gibt,
Dess' Machtgebot die Götter all' gehorchen,
Dess' Schatten die Unsterblichkeit, der Tod sind:
Wer ist der Gott, den wir mit Opfern ehren?
Er, der in Majestät vom höchsten Throne
Der atmenden, der Schlummerwelt gebietet,
Der aller Menschen Herr und des Getieres:
Wer ist der Gott, den wir mit Opfern ehren?
Er, dessen Größe diese Schneegebirge,
Das Meer verkündet mit dem fernen Strome;
Dess' Arme sind die Himmelsregionen:
Wer ist der Gott, den wir mit Opfern ehren?
Er, der den Himmel klar, die Erde fest schuf,
Er, der die Glanzwelt, ja den Oberhimmel,
Der durch des Äthers Räume hin das Licht maß:
Wer ist der Gott, den wir mit Opfern ehren?
Zu dem empor, von seiner Macht gegründet,
Himmel und Erde blickt, im Herzen schauernd,
Er, über dem die Morgensonn' emporflammt:
Wer ist der Gott, den wir mit Opfern ehren?
Wohin ins All die mächt'gen Wasser flossen,
Den Samen legend und das Feuer zeugend,
Da sprang hervor der Götter Eines Ursein:
Wer ist der Gott, den wir mit Opfern ehren?
Der über Wolkenströme selbst hinaussah,
Die Kraft verleihen und das Feuer zeugen,
Er, der allein Gott über alle Götter:
Wer ist der Gott, den wir mit Opfern ehren?
Mög' er uns gnädig sein, der Erde Vater,
Er, der Gerechte, der den Himmel zeugte,
Der auch die Wolken schuf in Glanz und Stärke:
Wer ist der Gott, den wir mit Opfern ehren?14
Im Weltschöpfungslied des Rig-Veda tritt uns das göttliche All-Eine erstmals in mystischer Schau entgegen, nicht als persönlicher Gott, sondern als un- und überpersönliches Eines. Selbst die zahlreichen, der Schöpfung innewohnenden Götter und der ihnen zugeordnete Obergott verdanken diesem Unsagbar-Einen und Ursprünglichen ihre Entstehung. Hier beginnt erst Mystik im eigentlichen Sinne; denn das im Weltprozess tätige Eine entstammt einem Bereich nicht vorstellbarer Transzendenz. Es hat keinen Namen; es heißt einfach nur „Dieses“ (Tad), oder „Das Eine, außer dem es sonst nichts gab“. Die Chandogya-Upanishad nennt es „Eines ohne ein Zweites“, das zweitlose Eine. Der mystische Dichter dieses Liedes weist alle Spekulationen über die Weltentstehung zurück; er ist bereits zu der Erkenntnis gelangt, dass niemand wissen kann, wie alles Gewordene zustande kam, selbst die Götter und ihr Obergott nicht, denn auch diese sind später als das Eine.
Es war kein Nichtsein damals, und es war kein Sein;
Es war kein Luftraum auch, kein Himmel über ihm.
Was webte damals? Wo? Wer hielt in Schutz die Welt?
Wo war das Meer, der Abgrund unermesslich tief?
Nicht Tod war damals, auch das Leben gab es nicht;
Es gab kein Unterschied noch zwischen Tag und Nacht;
Doch Dieses atmete, auf seine Weise, ohne Hauch:
Das Eine, außer dem es sonst nichts gab.
In Dunkel war die Welt im Anfang eingehüllt;
Und