So heißt es in Goethes Faust, Vorspiel auf dem Theater. Noch einen Schritt weiter geht der japanische Samurai-Dichter Ochiai Naobumi (1861–1903), der bekennt:
Wenn in der Nacht
Einsam ich aufwache
Und aus tiefer
Seele meine Verse sinne:
Dann bin auch ich ein Gott.5
Was ist ein Gedicht, diese seltsamste aller sprachlichen Offenbarungen? Niemand wird dieses Rätsel lösen können. Rudolf Hagelstange hat dennoch versucht, mit bebender Seele eine Antwort zu geben: „Ist es der Flaum von eines Vogels Brust, die Schuppe eines Fisches, das sinkende Blatt einer Rose? Das Winken eines seidenen Tuches, der Seufzer einer Liebesnacht? Der Kuss auf eine verblichene Stirn? Vielleicht ist es dies: ein kleiner Kristall, in dem alles Licht sich gesammelt hat, das unsere Tage erhellt. Eine Träne, die ins feste Gebild flüchtet, um nicht verloren zu sein. Träne der Freude, Träne der Trauer.“6
Und Hugo von Hofmannsthal lässt sein Gespräch über Gedichte in die folgende Betrachtung ausklingen: „Wovon unsere Seele sich nährt, das ist das Gedicht, in welchem, wie im Sommerabendwind, der über die frischgemähten Wiesen streicht, zugleich ein Hauch von Tod und Leben zu uns herschwebt, eine Ahnung des Blühens, ein Schauder des Verwesens, ein Jetzt, ein Hier und zugleich ein Jenseits, ein ungeheures Jenseits. Jedes vollkommene Gedicht ist Ahnung und Gegenwart, Sehnsucht und Erfüllung zugleich. Ein Elfenleib ist es, durchsichtig wie die Luft, ein schlafloser Bote, den ein Zauberwort ganz erfüllt; den ein geheimnisvoller Auftrag durch die Luft treibt: und im Schweben entsaugt er den Wolken, den Sternen, den Wipfeln, den Lüften den tiefsten Hauch ihres Wesens….“7
Die neun Musen –
ein Einweihungsweg
Von den Musen will ich beginnen, von Zeus und von Phoibos.
Stammen doch von den Musen und von Apollon, dem Schützen,
Alle Liedersänger und alle Harfner auf Erden,
Könige aber von Zeus. O selig, wen immer die Musen
Lieben; denn süßer Gesang wird seinem Munde entströmen.
Heil euch, Töchter des Zeus, schenkt Ehre meinem Gesange,
Ich aber werde eurer und andrer Gesänge gedenken.8
Homerischer Hymnus
Die Musen, diese göttlichen Schutzgeister der Dichter, die in der Antike so oft angerufen wurden, galten gemeinhin als die Töchter des Zeus und der Mnemosyne; dabei ist Zeus esoterisch gesehen der kosmische Allgeist und Mnemosyne (Erinnerungsvermögen) das Weltgedächtnis oder – mit einem indischen Ausdruck – die Akasha-Chronik. Akasha bedeutet so viel wie Äther. Wir können uns die Akasha-Chronik vorstellen als einen unendlich dünnen feinstofflichen Film, aus der Substanz des Weltenäthers gewoben, der alle Eindrücke aus der physischen Welt empfängt und für alle Ewigkeit in sich aufspeichert. Alle Taten, die je begangen wurden, alle Gedanken, die je gedacht wurden, hinterlassen einen solchen bleibenden Eindruck in der Akasha-Chronik. Hellsichtigen Menschen, nicht Medien, sondern geschulten Eingeweihten, ist es möglich, in der Chiffrenschrift der Akasha-Chronik die Geschehnisse vergangener Perioden zu erkennen.
Alle Dichter, Seher, Propheten und Eingeweihten schöpfen aus der Kraft des Weltgedächtnisses, der Welterinnerung, personifiziert als Mnemosyne, die Mutter der Musen. Denn wie sonst könnten die Dichter und Sänger die Taten der Vergangenheit verherrlichen, wenn sie diese nicht in plastischen Imaginationen vor ihrem geistigen Auge sähen? Und vergessen wir nicht: Die Akasha-Chronik, die oben im Äther schwebt, ist ja kein „Buch“ im üblichen Sinne, schon gar kein geschriebener Text, sondern ein reines Bilder-Gedächtnis. Aus der Ebene der Akasha-Chronik empfängt der Dichtende seine zentralen Inspirationen, die er unter Mithilfe der Musen in machtvolle Sprachbilder umwandelt. So wirken die Musen als Mittler: sie tragen die Bild-Inhalte des Weltgedächtnisses in das Bewusstsein des Dichters hinein; und dort werden diese Inhalte in Gedankenformen gekleidet, damit sie an andere Menschen (in metrisch gebundener Form) weitergegeben werden können.
In diesem Sinne wirkt der Dichter als Brücke zur Geistigen Welt; seine eigentliche Aufgabe ist Brückenbau. Die Musen, als die ausführenden Organe des Weltgedächtnisses (Töchter der Mnemosyne), üben bei diesem Amt geistigen Brückenbaus eine wichtige Funktion als Helfer, Mittler und Überbringer aus. In der griechischen Antike dachte man sich die Musen immer in Gruppen auftreten: da gab es die Pierischen Musen, die in Pierien östlich des Olymp wohnten, nahe den Göttern; dann die Boiotischen Musen am Berge Helikon in Böotien; dann als dritte Gruppe die Delphischen Musen, die am Parnass bei Delphoi lebten, in der Nähe der berühmten Orakelstätte. Auf ihren Wohnplätzen, geheiligten und magischen Orten, oft an Quellen oder Bächen gelegen – die Musen tragen auch etwas Quellnymphenhaftes an sich –, sangen und tanzten sie, häufig angeführt von ihrem göttlichen Schutzherrn Apollon Musagetes ( = der Musenführer). Apollon bedeutet den geistig-göttlichen Sonnen-Logos. Er war zugleich Besitzer der Lyra und insofern Schutzpatron der Dichter und Leierspieler.
So unterstand die Dichtkunst in ältester Zeit waltenden Göttermächten. Ursprünglich nur auf drei beschränkt, treten die Musen schon bei Homer als neun Schwestern auf, wobei jede einzelne über eine bestimmte künstlerische Funktion zu wachen hatte und mit einem entsprechenden Symbol verknüpft wurde. Man kann die neun Musen durchaus als Stufen eines Einweihungsweges verstehen, an dessen Ende die Vereinigung mit dem Weltengedächtnis steht, das Lesen in der Akasha-Chronik. Die Anrufung der Musen bei Beginn einer künstlerischen Arbeit war seit Homer ein weithin gepflegter Brauch, der später auch an Stätten geistigen Lebens, wie Schulen,
Philosophenkreise, geübt wurde. Die Namen der Musen und die ihnen zugeordneten Bereiche sind:
Erato | Liebesdichtung |
Euterpe | Musik |
Kalliope | epische Dichtung |
Kleio | Geschichte |
Melpomene | Tragödie |
Polyhymnia | feierlicher Gesang |
Terpsichore | Tanz |
Thaleia | Komödie |
Urania | Astronomie |
Ein mythisches Wesen, das mit den Musen in engem Zusammenhang steht, ist der Pegasos, jenes wundersame Flügelpferd, auf dem Bellerophon einst zu den Göttern hinaufreiten wollte. Vom Pegasos wird berichtet, dass durch seinen Hufschlag zwei Quellen entstanden seien: die eine heißt Hippokrene und fließt in Böotien; die andere nennt man Peirene, in der Nähe von Korinth gelegen – beides Stätten, wo die Musen sich zu versammeln pflegten, als deren heiliges Pferd der Pegasos galt. Der Pegasos ist es auch, der den Dichter-Eingeweihten zu den geistig-göttlichen Sphären emporträgt – in jene Höhen des Geistes, wo allein Zeus und Mnemosyne walten, der kosmische Allgeist und das „Weltgedächtnis“.
Die indischen Rishis, die griechischen Rhapsoden und die Barden-Sänger der Kelten, die Troubadoure und Minnesänger des Mittelalters, ja noch die inspirierten Dichter der europäischen Klassik und Romantik, auch die japanischen Zen-Dichter, die gottestrunkenen persischen Sufi-Poeten – sie alle treten als Künder höherer Weltengeheimnisse auf; sie alle besitzen ein tiefes Wissen um die Geistige Welt, das sie in ihren Dichtungen mal nur andeuten, mal wieder klar und deutlich aussprechen. Deshalb ist die Dichtung des Morgen- und Abendlandes, zumal in ihren heiligen Anfängen, eine randvolle Schatzkammer spirituellen Wissens. „Dichtung kommt aus Gott und mündet in Gott. Sie schafft magisch die große Vereinigung zwischen Dingen und Geist, zwischen Denken und Sein, zwischen Welt und Schöpfer. Am farbigen Abglanz erschaut sie das Leben, und Natur hat für sie weder Kern noch Schale. Man könnte, ein Wort Spinozas variierend, sagen: Die Dichtung ist nicht die Vorstufe zu einem seligen Jenseits, sie ist dieses Jenseits selbst. Oder: Das Jenseits ist nur das anders angeschaute Diesseits. Denn jenseits dieser Welt gibt es nichts. Noch das Nirwana … ist diesseits. Die Sterne leuchten auch den Toten, diese Blumen blühen auch für sie. Nur dass die verklärten Gesichter sie anders sehen. Mit übermenschlichen oder unmenschlichen Augen. So sehen auch die Dichter diese Welt mit über- oder unterirdischen Blicken. Gott ist der Geist. Und seine Geister sind die Dichter.“9
Von