Im Vergleich mit dem anderen großen epischen Dichtwerk Indiens, dem Mahabharata, scheint das Ramayana einer späteren Zeit anzugehören; wir finden in ihm eine voll entwickelte höfisch-feudale Welt orientalischen Stils dargestellt. Das Mahabharata mit seinem rauen Kriegertum ist archaischer, frühweltlicher; es erinnert an die Ilias des Homer im Vergleich zur späteren Odyssee. Das Ramayana ist im besten Sinn des Wortes höfische Kuntspoesie; es stammt aus dem klassischen Indien, und nicht aus einer legendären Frühzeit. Und zweifellos gehört das Ramayana auch zur Weltliteratur, obwohl es in Deutschland erst seit dem 19. Jahrhundert bekannt wurde, und zwar – anders als in England oder Frankreich – immer nur in Form von auszugsweisen Übersetzungen. Den Anfang machten natürlich die Gebrüder Schlegel, dann kam die Übersetzung von Friedrich Rückert, dann die von Adolf Holtzmann, die unter dem Titel Rama nach Walmiki 1841 erschien, aber nur eine Versübertragung des zweiten Buches war. So kann man sagen, dass das Ramayana in Deutschland nie richtig Fuß gefasst hat. Ganz anders die Wirkung des Epos in Asien: es gelangte von Indien aus nach Ceylon, in die Himalayaländer, nach Siam, Indochina und Insulinde; es findet sich im javanischen Schattenspiel ebenso wie in der Gründungslegende des Herrscherhauses von Thailand.
Im Mittelpunkt des Ramayana steht natürlich in erster Linie Rama selbst, der in den sieben Büchern zusammen mit seinem jüngeren Bruder Lakshmana und seiner Frau Sita sowie mit Unterstützung des weisen Affen Hanuman so manche „aventuire“ zu bestehen hat, nicht anders als später die Helden der höfischen Ritterromane des Mittelalters. Insbesondere hat er zahlreiche Dämonen, Feinde der Götter, zu bekämpfen; aber seine Hauptaufgabe besteht darin, den zehnköpfigen, zwanzigarmigen, proteusartig sich verwandelnden Dämonenfürsten Ravana zu besiegen, der mit einem gewaltigen Hofstaat auf der Insel Sri Lanka residiert. Eben dieser Ravana war es auch, der Ramas Frau Sita heimtückisch entführte, jene Sita, die einer Ackerkrume entsprang und so als eine Verkörperung der Mutter Erde gelten mag. Der Sieg über den Dämonen Ravana, durch die tatkräftige Unterstützung einer Affenarmee mit herbeigeführt, ist somit auch mit der Befreiung der in den Banden der Gefangenschaft liegenden Sita verbunden. So könnte dem Ramayana ein alter Vegetationsmythos zugrunde liegen: Rama als der göttliche Sonnen-Heros, der gegen das Dunkel kämpft; Sita als die Mutter Erde, die zur Frühjahrszeit aus den Ketten des Winterdämons Ravana befreit wird.
Und tatsächlich ist Rama mehr als bloß ein ins Übermenschliche gesteigerter Held; er gilt als die siebente Inkarnation des Gottes Vishnu auf Erden. Deshalb hat man das Ramayana als das „Evangelium des Hinduismus“ bezeichnet, weil es, wie das Johannes-Evangelium der Christen, von der Fleischwerdung des Wortes, von der Menschwerdung Gottes kündet. In diesem Sinne ist das Ramayana nicht nur Abenteuer-Roman, Märchen-Epos und ritterliche Helden-Erzählung, sondern in erster Linie Heilsgeschichte. Es setzt eine zyklische Folge von Avataren, göttlichen Verkörperungen auf Erden voraus, durch die sich ein Heilsplan zum Wohle der Erden-Menschheit vollzieht. Im Ramayana vermischt sich Transzendentes mit Historischem, Jenseitiges mit Innerweltlichem. Im Ersten Buch („Bala Kanda“) treten die Götter gemeinsam vor Vishnu hin, den obersten Gott, und bitten ihn, sich auf Erden als Mensch zu verkörpern und in dieser Gestalt den bösen Dämonen Ravana zu besiegen: denn nur ein Mensch vermag den allgewaltigen Ravana zu töten. Vishnu gibt den Wünschen der Götter nach und spricht:
„'O ihr Devas, fürchtet euch nicht. Friede sei mit euch. Um euretwillen will ich Ravana zerstören, zusammen mit seinen Söhnen, Enkeln, Ratgebern, Freunden und Verwandten. Und wenn ich diese schrecklichen und grausamen Dämonen erschlagen habe, diese Schrecken der göttlichen Weisen, will ich die Welt der Sterblichen elftausend Jahre lang regieren.' So gewährte Vishnu den Göttern ihren Wunsch, und dann überlegte er, wo er sich auf der Erde als Mensch gebären lassen sollte. Darauf beschloss der lotusäugige Gott, als die vier Söhne des Königs Dasharatha zur Welt zu kommen.“21 Nachdem Vishnu sich in Gestalt der vier Söhne König Dasharathas verkörperte, als Rama, Lakshmana, Bharata und Shatrugna, beschloss die Göttin Lakshmi, die Gemahlin Vishnus, sich als Sita zu inkarnieren, und zuletzt werden auch die Devas verkörpert, nämlich in Form einer gewaltigen Affenarmee, tapfere und mächtige Geschöpfe, die in der Zauberkunst genauso bewandert sind wie in der Kriegskunst. Die Affen unterstehen den beiden Brüdern Sugriva und Valin, Verkörperungen von Surya und Indra. So rüstet sich nun alles für einen geradezu endzeitlichen Kampf, eine Generalabrechnung zwischen Gut und Böse, worauf die elftausendjährige Periode eines „Goldenen Zeitalters“ folgen wird.
Im Lichte dieser endzeitlichen Ereignisse erweist sich Rama als eine fürwahr heilsgeschichtliche Gestalt. Edouard Schuré rechnet ihn zusammen mit Krishna, Thot-Hermes, Moses, Orpheus, Pythagoras und Platon zu den „Großen Eingeweihten“, und er sieht in ihm sogar einen legendären König aus arischer Frühzeit, der sein Volk aus den dichten Wäldern des Skythenlandes in das Herz Asiens, nach Iran und Indien, geführt habe. Glanzvoll soll seine Herrschaft in Indien gewesen sein: „Durch seine Kraft, seinen Genius, seine Güte, sagen die heiligen Bücher des Orients, war Rama der Beherrscher des Orients und der spirituelle König Europas geworden. Die Priester, die Könige und die Völker neigten sich vor ihm wie vor einem himmlischen Wohltäter. Unter dem Zeichen des Widders verbreiteten seine Sendlinge das arische Gesetz, das die Gleichheit der Sieger und Besiegten verkündete, die Abschaffung der menschlichen Opfer und der Sklaverei, die Ehrfurcht vor der Frau am Herd, den Kultus der Ahnen und die Institution der geweihten Feuer als sichtbares Symbol des ungenannten Gottes.“22
Am Ende des Treta-Yuga wird Rama nun als Verkörperung des Gottes Vishnu auf Erden inkarniert. Seine drei Brüder, alle Söhne des Königs Dasharatha, sind Teil-Inkarnationen desselben Gottes. Rama als der älteste Sohn soll das Königreich des Vaters erben, aber es kam anders. Seine Stiefmutter Kaikeyi zettelte nämlich ein Komplott an, indem sie Dasharatha dazu brachte, Rama für 14 Jahre in die Verbannung zu schicken und das Königreich ihrem Sohn Bharata zu übergeben. So wird denn Rama auf königlichen Befehl in den Wald geschickt, um dort ein asketisches Einsiedlerleben zu führen, wohin ihm sein jüngerer Bruder Lakshmana und seine ihm anvertraute Gattin Sita folgen. Selbst als Dasharatha stirbt und Bharata, der Rechte des wahren Thronfolgers eingedenk, auf das Königtum verzichten und es Rama übergeben will, besteht dieser darauf, im Wald zu bleiben und die 14 Jahre der Verbannung dort zu verbringen, wie es ihm aufgetragen war. Unbedingter Gehorsam also – ähnlich wie Sokrates, der den Giftbecher trank, obwohl er wusste, dass er zu Unrecht verurteilt wurde. In ihrer Wald-Einsiedelei haben Rama und seine Freunde indes viel damit zu tun, die Angriffe bösartiger Dämonen (und -innen), sogenannter Rakshasas, abzuwehren. Nachdem sie eine Dämonin, Shurpanaka, besonders verärgerten, ging diese zu ihrem Bruder, dem Dämonenfürsten Ravana, der in Lanka, der Hauptstadt der Insel Ceylon, wie ein Feudalherrscher residiert. Dieser ersann eine List: nachdem einer seiner Dämonen die Gestalt eines prächtigen Hirsches angenommen und die beiden Brüder hinweggelockt hatte, kam Ravana mit seinem fliegenden Wagen vom Himmel herab, ergriff Sita und führte sie hinweg nach Lanka, wo er sie in seinem Palast einsperrte.
Damit ist der Grundkonflikt der Erzählung hergestellt – Rama muss die geraubte Sita, sein weibliches Dual, seine bessere Hälfte, wiedergewinnen; und das kann er nur, indem er den bösen Ravana besiegt. Auf der Suche nach der verlorenen Sita findet Rama einen Bundesgeossen in König Sugriva. Durch Zufall und Geschick werden die beiden zusammengeführt, und sie verbünden sich. Sugriva ist der König eines mächtigen, kriegserfahrenen und zauberkundigen Affenstammes, und als oberster Ratgeber, Großwesir und General dient ihm Hanuman, ein Affe mit ganz ungewöhnlichen Fähigkeiten. Nachdem Rama dem vom Königsthron verstoßenen Sugriva geholfen hat, seine Herrschaft wiederherzustellen, stellt dieser für Rama eine gewaltige Affenarmee auf, mit dem Ziel, die gefangene Sita zu suchen und notfalls mit Gewalt zu befreien. Es gibt also Krieg – Krieg der Affen gegen die Dämonen, ähnlich wie einst der Krieg der Götter gegen die Asuras. Und er wird, wie Homers Kampf um Troja, um einer Frau willen geführt! Aus allen Teilen der Welt ruft der mächtige Sugriva die ihm botmäßigen Affenkrieger und Affenhäuptlinge zusammen, und eine unübersehbare, vieltausendköpfige Heerschar versammelt sich vor ihm auf dem Kampfplatz:
„In diesem Augenblick verdunkelte sich das Firmament, und ein Schleier fiel über den feurigen Glanz dieses tausendstrahligen Planeten; eine Staubdecke hing plötzlich