„Seit wann hast du Grund, dich vor mir zu fürchten?“
Der jungen Frau schossen alle Nackenhaare in die Höhe. Ein Schauer ließ ihren Körper erzittern, während jene Stimme, fast klanglos, in ihrem Kopf widerhallte und ein Gefühl zurückließ, für dessen Beschreibung Menschen nicht genug Worte kannten.
Langsam, als bedeutete jede zu schnelle Bewegung den Tod, wandte die junge Frau sich um. Sie wusste nicht, was sie erwartete, doch ein Gefühl in ihr flüsterte vertrauenerweckende Worte. Ihr Geist kannte die Macht, die unmittelbar hinter ihr erschienen war. Sie war allgegenwärtig, durchzog jeden Grashalm dieses Landes. Aber sie wollte nicht glauben, nun mit eigenen Augen zu sehen, was ihrer aller Geschicke gelenkt hatte – und es noch immer tat.
Die Gestalt war so unwirklich, dass man sie mit menschlichen Augen kaum erfassen konnte. Blass, durchscheinend, die Konturen weich wie die Nebelschwaden stand sie zwischen den Bäumen. Die junge Frau konnte nicht sagen, ob dieses Wesen einem Menschen, einem Mann ähnlich war. Es hatte kein Geschlecht, keinen Körper wie die Bewohner der Erde. Und doch war es realer als alles, das sie kannte.
Entfernt vermochte sie zu sagen, dass dieses Wesen einem Mann ähnelte. Das Gesicht war von Zügen geprägt, deren Alter niemand mehr schätzen konnte. Denn das Altern selber gab es in diesem Antlitz nicht. Ein Hirschgeweih, mächtiger als jedes, das man je an einem lebenden Tier gesehen hatte, ragte schummrig und unwirklich in das Blätterdach des Waldes hinein. Die junge Frau erkannte die Gestalt nur verschwommen. Doch das milde, geheimnisvolle Leuchten, das sie umgab, spürte sie deutlicher als jede Mittagssonne.
Er ist gekommen, der Herr Des Waldes. Sie wagte kaum, diese Worte in ihren Gedanken zu formen. Der Ausdruck im Gesicht des Gottes war undeutbar, als er sich mit einem Lächeln um die Lippen näherte. Die junge Frau glaubte, dem nicht mehr standhalten zu können. Seine ruhende Macht, alt wie die Zeit, schien sie zu überwältigen. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und ihr Gesicht in den Armen verborgen. Doch sie wagte nicht, sich abzuwenden.
„Ich kann fühlen, was es für dich bedeutet, wieder hier zu sein.“ Die junge Frau bekam eine Gänsehaut. „Es ist nicht üblich, einer Seele einen sterbenden Körper statt den eines Neugeborenen zu schenken. Aber manche Situationen erfordern eine solche Tat.“
„Mein Herr …“ Die Stimme der jungen Frau zitterte. „Ich bin überzeugt, es gab einen triftigen Grund.“
„Den gab es.“
Sie schauderte erneut. Obgleich es an Blasphemie grenzte, so etwas auch nur zu denken, schien in der Stimme des Gottes ein Hauch von Wut mitzuschwingen. Die Ruhe, die von seiner Aura ausging wie ein Duft, geriet ins Wanken.
„Und es bietet sich dir damit eine neue Möglichkeit, zu vollenden, was dir in deinem vergangenen Leben nicht gelungen ist.“
Die junge Frau stutzte. „Ich kann mich nicht erinnern. Was ist damals geschehen?“
„Das kann und will ich dir nicht sagen. Jeder erfährt seine Chance zu gleichen Teilen. Aber ein Mensch wie du wird schneller Antworten auf seine Fragen finden, als er glaubt.“
Die Präsenz des Gottes ließ nach. Noch immer hatte das strahlende Antlitz ihren Blick gebannt, hielt ihn gefangen, sodass sie ihn nicht abwenden konnte.
„Antworten werden kommen. Aber dir bleibt keine Zeit zum Zögern mehr.“
Damit begann die Gestalt sich aufzulösen. Die junge Frau kämpfte mit dem Drang, den Herrn Des Waldes zurückzurufen und ihm alle Fragen zu stellen, die in diesem Moment fast unerträglich auf ihrer Zunge brannten. Doch sie konnte es nicht. Sie spürte, dass dies nicht Sinn seiner Anwesenheit war. Der Glanz seiner Augen berührte sie ein letztes Mal. Sie keuchte auf, als würde er ihr wie ein Schwert tief in die Seele dringen. Sie konnte das nicht ertragen, es war unmöglich, in einer solchen Kraft bestehen zu können.
Dann war er fort. Was der Herr Des Waldes zurückließ, war ein unsichtbarer Schimmer, die letzte Spur seiner Aura, die kaum wahrnehmbar über den Grashalmen flackerte. Die Lunge der jungen Frau bebte, als wäre sie um ihr Leben gerannt. Ihr ganzer Körper zitterte. Die uralte Kraft schien wie eine Stütze aus ihrem Inneren weggebrochen – die Hand der Mutter, wenn ein Kind laufen lernt. Sie wusste, was zu tun war. Es wurde Zeit, dass das Kind auf seinen eigenen Beinen stand.
Am Grab eines Freundes
Die Bäume schienen zu flüstern, als der Wind lau über das Wasser strich. Morgengrauen war angebrochen. Die Hitze des Sommers hatte den Kampf mit den Frühnebeln noch immer nicht gewonnen, sodass eine feuchte, klamme Kühle über den Wiesen lag. Für Aigonn schien es in diesem Moment nichts Passenderes zu geben. Die Morgenröte lag zwischen Wolkenfetzen verborgen. Das rote Licht drang nur wie ein Schleier zu der kleinen Prozession hindurch, die sich vor einer Zeit lang bereits aus der Siedlung der Bärenjäger zur Totenaue begeben hatte.
Aigonn fröstelte es, als er seinen Blick über das Land schweifen ließ. Die Totenaue war eine leicht sumpfige Wiese. Hohe Gräser wuchsen in der Schwemmwasserzone eines Sees, dessen Schilf sich immer weiter ins Land vorkämpfte. Aigonn selbst hatte mehrmals nur mit Mühe den kaum sichtbaren Schlickrinnen in Ufernähe ausweichen können. Denn mit jedem Regen eroberte der See ein Stück mehr der an einem Waldrand gelegenen Wiese zurück.
Lediglich die Sommerhitze vermochte ihn zu bremsen. Einmal im Jahr, um die Sommersonnenwende herum, wich das Wasser weit genug, um alte, von den Naturgewalten zu Fall gebrachte Menhire wieder zum Vorschein zu bringen, die das Wasser längst unter sich begraben hatte.
Ein Schauer jagte Aigonn über den Rücken. Die alten Steine schienen wie Boten aus ferneren Zeiten zu ihm hinüberzusehen – anklagend, weil man dieses ehemalige Heiligtum so widerstandslos dem See zurückgegeben hatte. Die Totenaue hatten schon die Ahnen der Bärenjäger als den heiligen Ort erkannt, der er war, so nah an diesem See, dessen wahre Tiefe niemand kannte. Schon als Kind war es Aigonn leicht gefallen, sich vorzustellen, wie die Seelen der Verstorbenen durch das Wasser direkt das Tor zur Anderen Welt erreichten. Wenigstens würde Tarages es nicht weit haben.
Rowilan lief den Bewohnern des kleinen Dorfes voran. Danach folgten ihm Behlenos und Tarages’ Vater, die zusammen den Toten auf einer Trage trugen. Das Zwielicht des Morgens machte die Blässe im Gesicht des jungen Mannes kaum sichtbar. Es schien Aigonn, als brachte man soeben einen Schlafenden zu dem offenen Grabhügel, der den Ahnen seiner Familie schon als Ruhestätte gedient hatte.
Aigonn hatte sich niemals die Mühe gemacht, alle Gräber zu zählen, die in vielen verschiedenen Jahrhunderten von Vorfahren und deren Nachfahren errichtet worden waren. Wie eine Stadt der Toten lag das Ufer da – und mit ihm so viele nicht erzählte Geschichten, dass sie für Aigonn zum Leben zu erwachen schienen. Immer wieder blickte er verstohlen über die eigene Schulter. Da er an diesem Morgen vor lauter Müdigkeit beinahe verschlafen hatte, folgte er mit Efoh der Prozedur an letzter Stelle – was ihn zum einen verdrießlich stimmte, zum anderen aber genug Raum für seine Verklärtheit bot. Wie mechanisch stimmten seine Lippen in den monotonen Sprechgesang ein, den die Menschen über die feuchte Wiese trugen. Er verstummte erst, als Rowilan vor dem offenen Erdhügel zum Stehen kam.
Schwarz sah der Eingang des von innen mit Baumstämmen abgestützten Erdhügels in den frühen Tag hinaus. Das Grab, das man in Eile mit einer weiteren Kammer ausgestattet hatte, war kaum höher als der Schamane selbst und wirkte armselig neben den stolzen Ruhestätten von Kriegern und Fürsten aus anderen Jahrhunderten.
„Vater Himmel, Mutter Erde, Mächte von Vergehen und Ewigkeit, die ihr uns geschaffen habt, eure Kinder grüßen euch!“
„Wir grüßen euch!“, folgte das einstimmige Echo von Rowilans Worten aus allen Mündern der