Eine Weile führte ihr Weg ins Ungewisse, bevor im Mondschein ein alter Menhir erschien. Eine Decke aus Moos und Flechten hatte den uralten Stein überzogen, den Aigonns Ahnen vor Jahrhunderten schon an dieser Stelle aufgerichtet hatten, und gab ihm weiche, fast unwirkliche Konturen.
Erleichtert atmete er auf. Zwar hatte Aigonn die Siedlung der Eichenleute nicht gekannt, an welcher sie vorbeigeritten waren. Doch er hatte bereits geahnt, dass sie sich von dieser Richtung seiner Heimat nähern würden. Der Umweg war gewaltig gewesen. Mitternacht musste längst erreicht sein.
Er bremste das Pferd auf einen zügigen Schritt, als zwischen den letzten Bäumen des Waldrandes endlich die vertrauten Lichter von Aigonns Siedlung erschienen. Noch ein letzter Gedanke wanderte zurück zu den Eichenkriegern, die ihre Spur schon lange verloren hatten. Ob sie von der Siedlung seines Stammes wussten, die in solcher Nähe zu ihrer eigenen lag? Kannte man den Weg quer durch den Wald, würde man nicht einmal von Sonnenaufgang bis zum Vormittag brauchen, um im Feindesland zu sein. Behlenos würde diese Neuigkeit interessieren!
Sie befanden sich gerade auf Höhe der Holunderbüsche, wo die Nebelfrau Aigonn erschienen war, als die junge Frau bat: „Halt bitte an!“
Überrascht wandte Aigonn sich um. „Kommst du nicht mit mir?“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. In der Dunkelheit war ihr Gesicht nur ein schwarzer Schatten vor den grauen Umrissen des Waldes. „Es ist noch nicht die richtige Zeit dafür gekommen. Aber sorge dich nicht. Ich lasse euch nicht im Stich.“
Aigonn wusste nicht, was er antworten sollte. Im Grunde wusste er gar nichts. Die Nebelfrau hatte ihm lediglich aufgetragen, die junge Frau zu finden, bevor es andere seines Stammes taten. In dieser Welt fernab des Menschenmöglichen erhielt man ja keine Antworten auf seine Fragen!
Der kurze Verdruss verflog, als die junge Frau fast lautlos vom Rücken des Pferdes rutschte. Als Aigonn sie drei Schritte durch das hohe Gras streifen sah, erschien es ihm einen Herzschlag lang so, als ob doch Lhenia zu ihnen zurückgekehrt wäre. Anders als früher, anders als in seinen Erinnerungen, doch sie und niemand sonst.
Der Eindruck verging. Sie blickte sich noch einmal zu Aigonn um, als ob ihr noch etwas auf den Lippen läge. Doch sie schwieg. Schwieg, bis Aigonn zum Abschied nickte, sein Pferd bereits in Richtung Siedlung laufen ließ, bevor sie ihm doch noch hinterherraunte – mehr zu sich selbst: „Es scheint ja so, als ob ich nicht ganz ohne Grund hier wäre.“
Als Aigonn an den Palisaden seiner Siedlung um Einlass bat, begrüßte ihn der Wachposten mit einem angestrengten Ausdruck auf dem Gesicht. Auf eine Nachfrage von Aigonn hin schwieg er. Doch die Reaktion ließ vermuten, dass man den Bruder des Efoh bei den Bärenjägern unlängst vermisst hatte.
Gedanklich hatte Aigonn genügend Zeit, sich auf einen unschönen Empfang vorzubereiten, während er das Pferd in die nahen Stallungen brachte. Doch als er das Haus seiner Mutter betrat, war all dies zwecklos gewesen.
Die halbe Siedlung schien sich um das kleine Herdfeuer versammelt zu haben. Seine Mutter saß teilnahmslos summend dazwischen, als ob sie gar nicht dazugehörte. Links von ihr hockte Behlenos selbst auf den weichen Bärenfellen, einen Becher Met in den Händen, den er missmutig wiegte, bis er Aigonn eintreten hörte.
Seine Miene verfinsterte sich augenblicklich. Der scharfe Blick aus den Augen Rowilans, welcher an der Seite seines Fürsten saß, verhieß Aigonn nichts Gutes. Sämtliche Krieger aus dem höchsten Rat, Frauen und Alte hatten sich um seine Mutter gescharrt, hielten sie in den Armen, wie um ihr die Trauer um ihren verstorbenen Sohn zu nehmen, der in diesem Moment lebend in der Tür stand. Irgendwo saß Efoh dazwischen, eine Mischung aus Verwirrung und Missgunst über den derzeitigen Zustand im Gesicht.
Behlenos’ Stimme bot keinen Raum für Nachsicht, als er Aigonn voll Zorn begrüßte: „Ach, sieh an! Wer kehrt denn so spät noch von einer Reise zurück?“
Aigonn wusste nicht, was er antworten sollte. Zögerlich wagte er sich bis neben das Regal vor, bevor sein Fürst auf die Beine sprang und ihn anschrie: „WO, BEI ALLEN GÖTTERN, BIST DU GEWESEN? Warst du es nicht, der mir noch heute Nachmittag erzählte, er könne nicht mit uns reiten und seinen Kriegern beistehen, weil ihm die Verletzungen zu schwer zu schaffen machen?“
„Ich bin in den Wald hinaus gelaufen, um nach Brennholz und Kräutern für meine Mutter zu suchen.“ Etwas Geschickteres fiel Aigonn nicht ein. Widerwillig bemerkte er die Unsicherheit in seinen Worten. Und bereits, als er ihnen noch einen Satz hinzufügte, spürte er, dass niemand ihm glaubte. „Das Pferd habe ich als Lasttier mitgenommen.“
„Ach wirklich?“ Ein gefährliches Funkeln blitzte in Behlenos’ Augen auf. Drohend trat der Fürst an Aigonn heran, sein Atem fuhr ihm ins Gesicht, als wolle Behlenos ihm den Pesthauch entgegenjagen. „Vielleicht solltest du nicht vergessen, dass wir uns noch immer im Krieg befinden!“
Als die erste Wut von ihm abgefallen war, erkannte Aigonn endlich, was der wahre Grund für Behlenos’ Aufruhr war. Unruhe und Rastlosigkeit sprach aus den Zügen aller Anwesenden – mit Ausnahme seiner Mutter vielleicht, die eines der Jagdmesser seines Vaters in den Händen hielt und es leise singend polierte.
Die Stimme des Fürsten hatte etwas an Härte verloren, als er erklärte: „Die Eichenleute sind außer sich. Auf unserer Suche nach Lhenia haben wir beobachtet, wie verstreute Kriegerscharen in hellem Aufruhr in Richtung unserer Siedlungen geritten sind. Wir waren genug, um einen kleinen Trupp aufzuhalten, aber dabei sind ihnen Tarages und Rhenward zum Opfer gefallen.“
Erschrocken sah Aigonn auf. Die beiden jungen Männer waren kaum älter als Efoh gewesen. Der jüngere, Tarages, hatte ihm selbst Zeit seines Lebens immer zur Seite gestanden, war da gewesen, wenn kein anderer sonst für Aigonn eine Hilfe gewesen wäre. Taubheit legte sich über sein Gesicht. Aigonn wusste, dass kein echter Schmerz sein Fleisch erfasste. Doch jener, der so plötzlich aus seinem Inneren hervordrang, siegte über seinen Verstand.
Er hörte kaum mehr zu, als die Wut ein weiteres Mal in Behlenos aufloderte und der Fürst ihn anfuhr: „NIEMAND WIDERSETZT SICH IN DIESEN TAGEN MEINEN BEFEHLEN, verstehst du das? Und ich lasse mich schon gar nicht von einem wie dir zum Narren halten!“
Aigonns Augen leerten sich. Er sah weder seinen Fürsten, die anderen Menschen, noch Efoh, der ihm aus der Menge besorgt entgegenblickte. In seine Gedanken drängte sich eine Erinnerung, ein braunhaariger, junger Mann, hager, schweigsam, doch stets mit einem Lächeln auf den Lippen, das außer Aigonn nur wenige bemerkten. Ein Junge, den man übersah, wenn man es wollte, unauffällig, doch der einzige, dem Aigonn je alles erzählt hatte. Tarages hatte mehr gewusst als Efoh. Aigonns kleiner Bruder hatte den Gleichaltrigen immer eifersüchtig beäugt, da er wusste, welches Vertrauen Aigonn diesem im Gegensatz zu ihm entgegenbrachte. Aber wirklich viel gesprochen hatten sie all die Jahre über nicht. Tarages war kein Mensch großer Worte gewesen. Doch wann immer er gespürt hatte, dass Aigonn nach einem Vertrauten suchte – damals, als sein Vater verschwunden war und seine Mutter den Bezug zur Realität verloren hatte –, war er da gewesen. Aigonn konnte die Schuld nicht ermessen, die er dem jungen Krieger noch immer zu begleichen hatte. Und nun war er fort, Aigonns Chance vertan. Auch wenn er binnen des letzten Monats kaum mit Tarages gesprochen hatte. Die Lücke, die er plötzlich spürte, war unsäglich …
„Aigonn!“ Die scharfe Stimme seines Fürsten brachte ihn zurück in das Hier und Jetzt.
„Aigonn, wo ist sie?“
„Was?“ Seine Unwissenheit war keine Schauspielerei. Aigonns Gedanken hatten so fernab jeglicher Realität verharrt, dass Behlenos ungeduldig seine Frage wiederholen musste, bevor Aigonn verstand, was man von ihm wollte.
„Wo