Ivo griff Walrams Abkommen noch einmal auf. „Was die Aufnahme dieses Drogo angeht, so haben wir tatsächlich keine andere Wahl. Die Abtei benötigt die großzügigen Beigaben dringend. Außer der Art, wie Walram die Vereinbarung in die Wege geleitet hat, spricht nichts gegen die Aufnahme. Solltest du sie dennoch verweigern, könnte Rurik dir das Leben schwer machen und dich in deinem Amte als Abt ins Wanken bringen. Er wäre nicht der erste weltliche Fürst, der hinter dem Sturz eines Kirchenmannes stünde.“
„Ach Ivo, ich weiß ja, dass du Recht hast. Doch es sind auch nicht die Belange des neuen Novizen, die mich bekümmern. Ich sorge mich vielmehr um Faolán. Wenn Rurik und seine Frau ihn zu Gesicht bekommen, könnten sie ihn wiedererkennen. Schließlich ist er ihr Neffe. Und dann sind da noch die Mägde und Knechte der Gefolgschaft, die ebenfalls das Gesicht des Erben kennen. Wir müssen deshalb Faolán unbedingt von ihnen fernhalten!“
„Du hast Recht. Eines ist dabei noch zu bedenken. Faolán wird fortan mit Drogo zusammenleben. Ich frage mich ernsthaft, wie lange das gut gehen kann, ohne dass die Wahrheit zu Tage kommt.“
„Wir werden dieses Risiko eingehen müssen. Zum einen hoffe ich, dass sich Drogo nicht an Rogar erinnern kann. Sie haben sich nicht so häufig gesehen, dass er trotz Ähnlichkeit bei einem Novizen mit anderem Namen auf seinen vermissten Vetter schließen wird. Zum anderen kann sich Faolán noch immer nicht an seine Geschichte erinnern. Ich hoffe, dass es auch in Zukunft so bleiben wird. Es könnte also auch wesentlich einfacher werden, als wir im Augenblick befürchten.“
„Oder schlimmer“, gab Ivo zu bedenken. „Wie auch immer, lass uns jetzt besser gehen. Schließlich musst du als Abt noch eine offizielle Begrüßung aussprechen. Solltest du das unterlassen, würde sich Rurik hart vor den Kopf gestoßen fühlen.“
Degenar rollte entnervt mit den Augen. „Ja, lass uns gehen. Der Herr hat Faolán in unsere Obhut gegeben. Er wird auch dafür sorgen, dass der Junge bei uns seinen Weg sicher gehen wird. Das Vertrauen in Gott ist die größte Kraft auf Erden. Mit seiner Hilfe werden wir es schaffen.“
Ivo pflichtete Degenar mit einem Kopfnicken bei. Rurik würde es nicht zustande bringen, sie mit seinem Auftreten einzuschüchtern oder gar in ihrem Gottvertrauen zu erschüttern.
Abt und Kellermeister verließen das Gotteshaus durch die Seitentür. Sie schritten unter den aus rotem Sandstein gemauerten und mit schlichten Verzierungen versehenen Arkaden des Kreuzganges einher. Über ein Vorgebäude gelangten sie direkt auf den großen Klosterhof. Degenar wurde von dem sich ihm darbietenden Anblick beinahe überwältigt. Noch nie hatte er eine so große Menschenmenge im Hof versammelt gesehen. Mehrere große Wagen und zahlreiche Pferde waren zusammen mit unzähligen Menschen eingetroffen. Das war also Ruriks Gefolge. Darunter befanden sich zahlreiche Mägde und Kammerfrauen, ein Pferdemeister und Knechte, Spielleute und persönliche Berater. Die Menge ordnete sich selbst, und es hatte den Anschein, als würde ein jeder seinen Platz kennen oder wüsste, wo es anzupacken galt.
Bei dem dichten Treiben auf dem Hof war es kaum aufgefallen, dass Abt und Cellerar den Platz betreten hatten und nach Rurik Ausschau hielten. Als sie ihn schließlich erblickten, war es für sie keine große Überraschung, den Prior bei ihm anzutreffen. Walram schien einen vertrauten Umgang mit dem großen Mann zu haben. Stets trat er respektvoll, ja beinahe schon ehrfürchtig einen Schritt zur Seite, sobald sich Rurik bewegte, um ja nicht im Wege zu stehen.
Rurik hingegen hatte offensichtlich Wichtigeres zu tun, als dem Prior seine volle Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Während er sich mit Walram unterhielt, würdigte er ihn keines Blickes. Selbst sein Pferd war ihm wichtiger als der Geistliche, und während er sein Tier tätschelte, hatte Walram anscheinend Mühe, Ruriks Ausführungen zu folgen.
Gerade als Degenar und Ivo unbemerkt in Hörweite gekommen waren, lenkte Rurik sein Augenmerk auf den Prior und sprach ihn an: „Ich brauche Beweise und keine vagen Vermutungen! Was soll ich damit anfangen, wenn Ihr etwas glaubt? Denkt Ihr etwa, ich handele auf reinen Verdacht hin? Ihr solltet mich inzwischen besser kennen und wissen, dass ich nichts dem Zufall überlasse.“
„Aber wenn ich es Euch doch versichere, solch einen Zufall kann es nicht geben. Er muss es sein!“
„Liefert mir einen sicheren Beweis. Nur einen, mehr bedarf es nicht. Mit Eurer Schönrederei allein kann ich beim König nichts bewirken.“
Der Prior hatte darauf nichts zu erwidern und senkte sein Haupt. Er wirkte gedemütigt und besiegt. Er bot einen Anblick, den Degenar, soweit er sich erinnern konnte, noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Als der Prior die Nähe seines Abtes bemerkte, richtete er sich augenblicklich wieder auf und täuschte seine gewohnte Sicherheit vor. Dabei trat er einen Schritt zurück, als wolle er gehen. Degenar hielt ihn jedoch mit einer einladenden Geste auf.
Rurik wandte sich nun ebenfalls den beiden eintreffenden Mönchen zu. Degenar verlor keine Zeit und ergriff sogleich das Wort: „Wie ich sehe, hat sich unser ehrwürdiger Prior um Eure dringlichsten Belange bereits gekümmert. Hoffentlich ganz zu Eurer Zufriedenheit.“
Degenar hielt es für angebracht, freundlich und zuvorkommend aufzutreten. Ein erneuter Konflikt würde die Fronten nur verhärten.
Noch im Kreuzgang hatte er sich Zurückhaltung und Geduld geschworen, denn zusätzliche Spannungen zu all der Unruhe, die der Tross in der Abtei schon verbreitete, wären für ihn unerträglich.
Rurik vernahm Degenars Worte aufmerksam. Hier, unter all seinen Männern, wirkte er gänzlich anders als allein im Gotteshaus. Hier draußen, in seinem gewohnten Umfeld, war er der unangefochtene Führer. Für einen Moment beeindruckte diese Verkörperung von Macht, Führung und Autorität den Abt, jedoch streifte er diese Bewunderung schnell wieder ab und führte das Gespräch fort:
„Seid willkommen in unserem bescheidenen Kloster. Das Gästequartier wurde bereits hergerichtet und ein Mahl zu späterer Stunde ist in Vorbereitung. Es soll Euch während des Aufenthaltes an nichts mangeln. Sollte dies wider Erwarten dennoch der Fall sein, so wendet Euch bitte an unseren ehrwürdigen Kellermeister.“ Dabei wies er auf Ivo, der sich ehrfürchtig verbeugte. „Er steht Euch jederzeit zur Verfügung, es sei denn, er befindet sich gerade im Gebet.“
Rurik war nicht entgangen, dass die Einschränkung in Degenars Angebot eine klare Anspielung auf den jüngsten Vorfall in der Klosterkirche war. Er nickte kurz, doch in seiner höflichen Antwort schwang ein sarkastischer Unterton mit: „Habt aufrichtigen Dank. Doch seid unbesorgt, ehrwürdiger Abt, wir werden die Gastfreundschaft Eurer – bescheidenen – Mauern nicht allzu lange in Anspruch nehmen. Noch vor dem morgigen Mittag werden wir unsere Reise fortsetzen. Sollte nichts Außergewöhnliches in dieser kurzen Zeit vorfallen, so wird Eure Abtei schon bald nicht mehr ganz so bescheiden sein …“
Degenar verstand die Zwischentöne ebenso gut wie Rurik zuvor und er antwortete: „Seid uns für diese kurze Zeit als Gäste willkommen. Wir stehen Euch zu Diensten, ganz wie es unsere Ordensregeln vorschreiben und erlauben. Doch jetzt muss ich mich anderen Aufgaben widmen.“
Nach diesem kurzen Wortwechsel zur Begrüßung gab es nichts mehr zu sagen. Degenar gab Ivo noch einige Anweisungen, bevor er ansetzte, den Hof wieder zu verlassen. Er benötigte jetzt die Abgeschiedenheit seiner Räumlichkeiten, um in Ruhe nachdenken zu können. So lenkte er seine Schritte über den Hof, scheinbar in Gedanken versunken. Tatsächlich aber schaute er sich sorgfältig um, denn insgeheim hoffte er, jenes Kind zu Gesicht zu bekommen, welches er für viele Jahre aufnehmen musste.
Degenar schritt durch die geschäftige Gefolgschaft. Der Abt fühlte sich in dieser Umtriebigkeit in keiner Weise wohl. Die ungewöhnliche Dichte an Bewaffneten, bestätigte Degenars ersten Eindruck: Rurik nutzte den Besuch als Machtdemonstration.
Plötzlich lenkte eine äußerst laute Kinderstimme die Aufmerksamkeit des Abtes auf sich. Das musste Drogo sein! Breitbeinig stand der Junge mit einem