»Beharrlichkeit führt zum Ziel«, meinte Veronika Baier.
»Nicht bei mir«, sagte der Chefarzt.
»Möchten Sie zurückrufen?«, fragte sie.
»Ja, verbinden Sie mich, damit ich die Sache gleich erledigen kann.«
Das Telefonat nahm zwanzig Minuten in Anspruch. Danach konnte Dr. Anders sicher sein, dass man es nicht noch mal versuchen würde. Seine Argumente waren überzeugend und hatten Hand und Fuß. Den Ausschlag gab wohl seine Bemerkung, dass er nicht zu jenen Karrieremedizinern gehöre, die unbedingt auf mehreren Hochzeiten tanzen mussten und dadurch nirgendwo ihr Bestes geben konnten. Er sagte, er wolle sich nicht verzetteln, sondern sich auf eine Aufgabe voll konzentrieren und damit das optimale Ergebnis erzielen.
Inzwischen hatte er den starken Kaffee getrunken, und er fühlte sich wieder gut, die Müdigkeit war verflogen. Da er ohnedies nach einem Patienten sehen wollte, der auf der Inneren lag, wollte er auch gleich Dr. Viktor Uhlig, den Leiter dieser Station, aufsuchen und sich anhören, was der Kollege auf dem Herzen hatte.
Beim Verlassen des Büros sagte er zu Veronika Baier: »Wenn etwas Dringendes sein sollte, finden Sie mich auf der Inneren.«
»Ist gut, Chef«, erwiderte die Sekretärin.
19
Als er die Station für innere Krankheiten betrat, kam Erich Gloger aus einem der Zimmer.
»Na, wieder einmal ein Fahrrad demoliert?«, fragte der Chefarzt amüsiert
»Ich bin kein Verkehrsrowdy, Herr Chefarzt. Das war eine einmalige Sache, und ich habe den Schaden inzwischen selbstredend wiedergutgemacht. Man weiß schließlich, was sich gehört«, gab der Krankenpfleger zur Antwort.
»Wenn ich Sie so ansehe, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie dieses Missgeschick nach wie vor als Glücksfall betrachten.«
»Das tue ich tatsächlich. Immerhin entwickelt sich die Bekanntschaft mit Jutta Sibelius kontinuierlich auf eine Freundschaft zu, und das ist mir sehr willkommen«, gab der junge Mann bereitwillig Auskunft.
Dr. Anders und Erich Gloger gingen nebeneinander den Flur entlang. Ein Wort ergab das andere, und so wurde der Chefarzt wieder an Antje Büchners Pech erinnert, denn Antje war Juttas beste Freundin, und da Dr. Anders sie operiert hatte, nahm Erich Gloger an, dass ihn ihre Geschichte interessierte.
Dem Chefarzt fiel ein, dass er sich mit Kitty Kolbert unterhalten wollte, doch zuvor wollte er mit Antje Büchner reden und von ihr direkt hören, wie sie über die Dinge dachte.
Dr. Uhlig trat aus dem Ärztezimmer. Ein Patient sollte auf ein anderes Zimmer verlegt werden. Der Oberarzt bat Gloger, sich darum zu kümmern.
»Mach’ ich sofort«, sagte er, nickte den beiden Medizinern zu und eilte davon.
»Der beste Krankenpfleger, den wir haben«, sagte der Oberarzt Dr. Uhlig. »Fleißig, intelligent, arbeitswillig. Wir könnten mehr von seiner Sorte brauchen.«
»Sagen Sie mir, wo ich sie finde, und ich stelle sie ein«, erwiderte der Chefarzt und lächelte.
»Tja, das ist eben der Haken. Ich weiß es selbst nicht«, entgegnete Dr. Uhlig.
»Sie wollten mich sprechen, Herr Kollege«, sagte Dr. Robert Anders.
»Es ist nichts Weltbewegendes. Sie hätten sich deswegen nicht hierher zu bemühen brauchen«, meinte der junge Mediziner.
»Ich wollte sowieso nach Herrn Pelinka sehen«, erwiderte Dr. Anders. »Also, was gibt es?«
20
Antje Büchner fühlte sich elend. Morgens war ihr regelmäßig übel, aber das hätte sie nicht gestört, denn es gehörte einfach mit zur Schwangerschaft, und tagsüber wäre es ihr gutgegangen, wenn es diese seelische Übelkeit nicht gegeben hätte.
Sie war empfindlich geworden, weinte wegen jeder Kleinigkeit. In der Firma wussten inzwischen alle, dass sie schwanger war, und man nahm in rührender Weise Rücksicht auf sie.
Sie verkorkste so manches, doch sie bekam von ihrem Chef nie ein rügendes Wort zu hören. Er wusste, was sie leisten konnte, wenn sie in Ordnung war, und ihm war klar, dass dieses Tief keine neun Monate anhalten würde.
Der Körper musste sich umstellen, musste sich auf das Baby einstellen.
Dass es da im Beruf zu Fehlleistungen kommen konnte, war verständlich.
Niemand ahnte, dass es einen anderen Grund gab, weshalb sich Antje so deprimiert durch den Tag schleppte, denn sie sprach mit niemandem über ihre Sorgen.
Sie war ihren Kollegen dankbar für jedes freundliche Wort, das sie hatten. Wenigstens sie mögen mich noch, dachte sie traurig. Gideon Arendt hatte nach jenem letzten Rendezvous nichts mehr von sich hören lassen.
Bei Antje zu Hause stand sein Bild immer noch auf der Kommode. Wenn sie es ansah, füllten sich ihre Augen regelmäßig mit Tränen, und sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie diese Krise überwinden sollte.
Häufiger als sonst dachte sie an ihre Eltern, die im fernen Hamburg wohnten und nichts von sich hören ließen. Vater hatte ihr immer noch nicht verziehen, dass sie Grafikerin geworden war.^
Er wollte sie als Verkäuferin in seinem Wollladen haben, schließlich sollte sie das Geschäft ja eines Tages erben. Da war es nur recht und billig, wenn sie bis dahin für wenig Geld dort arbeitete.
Von Mutter hatte Antje Büchner nicht die geringste Unterstützung bekommen, obwohl sie sie händeringend darum gebeten hatte. Mutter hielt immer zu Vater. Ihrer Tochter gegenüber war sie kühl und abweisend - manchmal beinahe wie eine Fremde.
Obwohl das Verhältnis zu den Eltern denkbar schlecht war, hätte Antje die beiden gern mal wiedergesehen. Vielleicht erging es ihnen genauso, und sie wollten nur nicht den ersten Schritt tun.
Antje war zweimal nahe daran, einfach anzurufen, aber dann konnte sie sich doch nicht dazu überwinden.
»Jetzt, da es ihr schlechtgeht, erinnert sie sich an ihre Eltern«, hätte Vater wahrscheinlich gesagt. »Ich will nichts mehr von ihr wissen. Sie hat mich damals im Stich gelassen, hörte sich nicht einmal an, was ich zu sagen hatte, schaltete auf stur und ging fort. Soll sie weiter selbst sehen, wo sie bleibt. Sie interessiert mich nicht mehr. Ich habe keine Tochter mehr.«
Vater war immer sehr hart gewesen. Verzeihen hatte er nur sehr schwer können. Geboren und aufgewachsen war er in der Ostzone.