Das nahm ihm einen Großteil der Nervosität, weil er erkannte, dass er es tatsächlich beherrschte. Nein, er war nicht umsonst in diese Position geraten. Sein Vater hatte durchaus sein Potenzial erkannt und hatte ihn nur deshalb entsprechend gefördert. Nicht nur, weil er sein Sohn war. Ganz im Gegenteil: Diese Tatsache, dass er sein eigenes Fleisch und Blut war, erschwerte es sogar noch für ihn, weil er sich ständig aufs neue beweisen musste, denn niemand war natürlich dermaßen unter der Aufsicht von Georg Wetken im Verlauf dieser mehr als harten Schulung, als ausgerechnet sein eigener Sohn und künftiger Nachfolger. Und das nun schon seit so vielen Jahren.
Das gnadenlose Training, um sich dabei behaupten zu können, zahlte sich jedenfalls in diesen Sekunden enorm aus, wenngleich nicht so im Sinne von Georg Wetken, dem er das überhaupt verdankte, sondern tatsächlich in erster Linie für dessen Sohn Johann Wetken.
Dieser sagte nämlich:
„Mir ist es gelungen, Gordula Wetken auf unsere Seite zu ziehen, wie du weißt, mein Vater. Eine zugegebenermaßen zunächst nur eher kleine Hürde, die ich genommen habe, ja, zugegeben, aber es ist ja erst der Beginn von etwas wirklich Großem. Und wenn ich jetzt plötzlich überhaupt nicht mehr bei ihr auftauche, kann das nur zu unserem Schaden sein. Alles dies, was ich angestrebt habe, wird mit einem Schlag zunichte gemacht.“
Georg Wetken legte leicht den Kopf schief und betrachtete seinen Sohn mit schrägem Blick.
„Aha, das schon wieder: Gordula Wetken als Eingangspforte zum Hansehaus Schopenbrink?“, vergewisserte er sich mit grollender Stimme, die jedem, der Angesicht zu Angesicht Georg Wetken gegenüber stand, nicht selten eiskalte Schauer über den Rücken rieseln ließ. Dieser Mann strahlte eine Autorität aus, die praktisch jeden in die Knie zwang, außer natürlich einer einzigen Person: Margarethe Brinkmann! Dafür war ihr Hass auf ihn viel zu groß. Einmal abgesehen davon, dass eine persönliche Begegnung dieser beiden hohen Persönlichkeiten innerhalb der Obrigkeit von Hamburg völlig unmöglich erschien.
Aber auch Johann hatte es im Laufe der Zeit gelernt, nicht schon beim bloßen Klang der Stimme seines Vaters in Demutshaltung zu versinken. Genau das gehörte ja zu den Dingen, die Georg Wetken so besonders an seinem Sohn schätzte.
Nein, Johann Wetken blieb aufrecht und stolz stehen und ohne dem sengenden Blick aus den Augen seines Vaters auszuweichen. Er hielt ihm stand. Seine Stimme blieb ruhig und unbeirrt:
„Genau das ist sie! Wir verstehen uns prächtig. Das ist eine Freundschaft, die mir sehr teuer ist – und nützlich zugleich. Teuer und damit wichtig für mich selbst, aber auch für unser Hansehaus, ja, für unsere ganze Gilde.
Ich will nicht versprechen, dass ich auf diesem Wege wirklich erreichen kann, das Hansehaus Schopenbrink am Ende dazu zu bewegen, Mitglied in unserer Gilde zu werden, aber auch uneingeschränktes Wohlwollen uns gegenüber wäre doch sehr erstrebenswert. Auch und vor allem im ewigen Kampf gegen die schändliche Brinkmann-Gilde.“
Georg Wetken ließ seinen Sohn ausreden. Für ihn alles andere als selbstverständlich, zumal ihm bisher aus seinem Munde nichts wirklich Neues zu Ohren gekommen war, sondern nur bereits Bekanntes eindringlich wiederholt wurde. Aber es war klar, dass sein erster Zorn trotzdem einigermaßen verflogen war und er sich natürlich bemühen wollte, ausreichende Rechtfertigungsgründe für seinen Lieblingssohn zu finden. Insofern hatte Johann tatsächlich eine Art Bonus bei seinem Vater, den man nicht unterschätzen durfte.
Nach dieser Ansprache überlegte Georg Wetken erst noch. Er wog anscheinend sorgfältig das Gehörte ab, bevor er sich zu einer Entgegnung herab ließ.
Und die fiel leider immer noch nicht im beabsichtigten Sinne aus:
„Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun in dieser Situation?“
„Du hast mich festgesetzt, hast mir untersagt, das Haus zu verlassen. Mit Verlaub, mein Vater, ich will jetzt keineswegs respektlos erscheinen, und es liegt mir auch völlig fern, deine Entscheidungen auch nur im Geringsten in Frage zu stellen, aber dadurch kann ich mich jetzt natürlich nicht mehr Gordula treffen.
Sie hat sich ja ebenfalls nur heimlich mit mir treffen können. Das heißt, ihr eigenes Haus weiß darüber überhaupt nicht Bescheid. Das ist auch gut so, einerseits, denn es wäre ja viel zu früh noch, die Verbindung zwischen Gordula und mir offiziell zu machen. Und es würde ja offiziell werden, sobald ihr Haus dies erführe.
Ich will mir gar nicht ausmalen, wie ihr Vater, Hieronymus Schopenbrink, auf diese Erkenntnis reagieren würde zu diesem noch viel zu frühen Zeitpunkt.“
„Und andererseits?“
„Es müsste natürlich noch der Weg dazu bereitet werden, um sozusagen die offizielle Verlautbarung überzeugend vorbereiten zu können.“
„Ach, und du meinst in diesem Zusammenhang natürlich, wenn du jetzt die Verbindung abbrichst, könnte niemals mehr gelingen, was du dir vorgenommen hast?“, vergewisserte sich sein Vater ungerührt.
„Ich bin wahrlich meines Vaters Sohn!“, versprach Johann großspurig. „Ich muss ja nicht warten, bis ich eines Tages in deine Fußstapfen treten darf. Was spricht denn dagegen, wenn ich vorher schon ganz zum Wohle unseres Hauses aktiv werden will? Natürlich dort, wo ich deutlich genug die entsprechende Chance sehe? Es wäre doch schade, würde meine ganze Vorarbeit letztlich umsonst gewesen sein.“
„Immerhin eine Vorarbeit, die dir zudem sehr zupass kam, wie ich vermute?“
„Selbstverständlich kam sie mir sehr zupass! Das ist nicht zu leugnen. Ja, ich genieße es tatsächlich, mit Gordula Schopenbrink zusammen zu sein. Wir sind schließlich so etwas wie Seelenverwandte, um dies noch einmal zu betonen.“
„Aber sie ist nur eine junge Frau. Ist dir das denn wirklich klar? Also, wie groß kann denn schon ihr Einfluss sein im Hause Schopenbrink – eben als junge Frau?“
„Ja, gewiss, mein Vater, sie ist nur eine junge Frau, oberflächlich betrachtet, aber wer Gordula Schopenbrink wirklich kennt, so wie ich, der weiß, dass dies keinesfalls zu ihrer Charakterisierung ausreicht. Nicht bei ihr, wie ich versichern darf!
Du weißt ja schon, dass ausgerechnet sie mich zu jenem verbotenen Fest eingeladen hat, an dem nur Jugendliche aus verschiedenen Hansehäusern teilnehmen durften. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit natürlich.“
„Eine Verschwiegenheit, die du hiermit erneut brichst?“
„Nun, es ist ja sowieso nichts Neues mehr für dich, mein Vater, mit Verlaub. Ich verrate ja kein Geheimnis mehr. Du weißt ja schon, dass ich auf diesem einen Fest Adele zum ersten Mal gesehen habe. Allerdings weiß ich bis heute nicht, wer sie dahin eingeladen hat. Ich bin mir nur sicher, dass Gordula das nicht gewesen sein kann.“
„Und was macht dich da so sicher?“
„Gordula hätte es mir vorher schon gesagt, und sie hätte von mir erfahren, dass dies ganz und gar nicht in meinem Sinne gewesen wäre.“
„Ach, du setzt also tatsächlich voraus, dass diese Gordula Schopenbrink Adele Brinkmann niemals eingeladen hätte, allein schon aus Rücksicht auf dich, weil du ein Wetken bist?“
„So ist es!“, antwortete Johann überzeugt.
Georg Wetken schürzte nachdenklich die Lippen. Oh, das kam besonders selten bei ihm vor. Er schien tatsächlich hin und her zu wanken zwischen Zustimmung und Ablehnung. Bis er die nächste Frage abschoss, von deren Beantwortung möglicherweise jetzt alles abhing:
„Und wie sollte es deiner Meinung nach überhaupt gelingen, über Gordula Schopenbrink auf die Geschäftspolitik ihres Vaters Einfluss zu nehmen?“