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Zu dieser Zeit wuchsen Kinder der Hanse durchaus wohlbehütet und wohlerzogen auf, während sich ihre Erwachsenen allerlei Ausschweifungen hingaben. Es wurde geprotzt und geprasst. Dabei war von guter Erziehung in der Regel kaum noch etwas zu spüren, weil es kaum eine Ausschweifung zu geben schien, denen sich die Hansekaufleute nicht hingaben.
Ohne starke Persönlichkeiten wie eben Margarethe Brinkmann hätte das übel geendet. Eine Pleitewelle ohnegleichen hätte die Obrigkeit von Hamburg nachhaltig entmachtet und ein Chaos beschworen, das sich niemand wirklich vorstellen wollte.
Aber auch eine Persönlichkeit wie Georg Wetken war ein wesentlicher Regulator, um das Schlimmste zu verhindern und die Ordnung trotz alledem noch aufrecht zu erhalten.
Andererseits waren die Kinder der Hanse trotz ihrer guten Erziehung nicht dumm genug, um nicht mit zu bekommen, was ihre Erwachsenen so trieben, die ja angeblich ihre besten Vorbilder hätten sein wollen. Und von daher gesehen war es weiter nicht verwunderlich, wenn beispielsweise im Hansehaus Schopenbrink heimlich ein Fest gefeiert wurde, an dem nur Jugendliche teilnahmen, die es zwar wesentlich harmloser angingen als ihre erwachsenen Vorbilder, aber es fand natürlich vollkommen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Vor allem kein Erwachsener durfte davon erfahren, um das Trugbild der vollkommenen jugendlichen Unschuld aufrecht zu erhalten.
So war es gekommen, dass Johann Wetken verbotenerweise nicht nur Gordula Schopenbrink gekannt hatte, sondern mit ihr sogar befreundet gewesen war. Etwas, was ganz offiziell völlig unmöglich erschien.
Eine garantiert platonische Freundschaft sowieso. Wie auch die Feste der heranwachsenden Jugend in der Regel absolut gut situiert abliefen, ohne auch nur annähernd so ausschweifend werden zu können wie die Feste der Erwachsenen, die sich als wahre Herren von Hamburg sahen, weil sie hier unangefochten die Obrigkeit bildeten.
Es war Gordula während des kleinen und eher bescheidenen Festes gar nicht so recht aufgefallen, dass sich Johann in Adele verliebt hatte, die ausnahmsweise ebenfalls an diesem Fest teilgenommen hatte. Überhaupt war Adele Gordula mit ihrer Anwesenheit völlig entgangen. Hätte sie jemand gefragt, ob unter den Teilnehmern dieses verbotenen Festes eine Adele Brinkmann anwesend gewesen war, hätte sie es womöglich sogar verneint. Weil sie es ganz einfach gar nicht wusste.
Sie hatte sich eher darum bemüht, dass alles so ablief, dass sie halt nicht auffallen konnten. Das war die wichtigste Maßgabe überhaupt. Und genau deshalb lief das ja auch alles so gut situiert - um nicht zu sagen anständig - ab.
Der eine oder andere sprach vielleicht einmal zu viel dem Alkohol zu, ungeübt darin, das Risiko richtig abzuschätzen. Doch alle anderen kümmerten sich dann um diese Einzelfälle, immer eben mit der Maßgabe, nur ja nicht bei diesem verbotenen Spiel erwischt zu werden.
So hatte Gordula wahrlich ganz anderes zu tun gehabt als sich auch nur darüber zu wundern, wie wenig Zeit ihr Freund Johann für sie erübrigen konnte, weil er ganz und gar damit beschäftigt gewesen war, Adele Brinkmann näher kennenzulernen.
Immerhin waren beide so wohl erzogen, dass es dabei noch nicht einmal zum Händchenhalten gekommen war. Sie hatten sich einfach nur ganz tief in die Augen gesehen, dabei feststellend, dass es da etwas gab wie eine höhere Magie, die sie miteinander verband.
Und sie hatten sehr viel miteinander geredet. Wobei ihre Hansehäuser ganz und gar kein Thema geworden waren. Das hätte ja nur unnötig die romantische Stimmung verdorben.
Es war jedenfalls eine Begegnung, die Johann niemals in seinem ganzen Leben wieder vergessen würde. Und er war sich ganz sicher, dass es Adele genauso erging.
Nicht nur, dass er in dieser Erinnerung besonders gern schwelgte: Er war sich vollkommen sicher, dass er es niemals ertragen und somit auch niemals zulassen konnte, Adele auf Dauer nicht mehr sehen zu können. Koste es, was es wolle.
Obwohl er sie dermaßen schändlich hatte verleugnen müssen im Angesicht seines Vaters. Aber dazu hatte es ganz einfach keine Alternative gegeben, wie er sich immer wieder selbst einredete. Wenn er es schaffen wollte, Adele jemals wieder zu sehen und ihr vielleicht eines Tages sogar richtig näher zu kommen, dann ging das eben nur auf diesem Wege. Es war die hohe Zeit der Hanse. Da hatte man keine Freiheiten, konnte man nicht selbst bestimmen. Da bestimmten die Oberhäupter der Hansehäuser und über diese wiederum die Gildenführer. Jeder andere musste sich dem uneingeschränkt beugen, ob er nun wollte oder nicht. Wenn nicht, musste er mit Sanktionen rechnen, die er sich besser nicht vorstellen wollte.
Und wie sollte Johann es unter solchen Umständen jemals schaffen, auch nur Gordula wieder zu treffen, um sie endlich in Kenntnis zu setzen über alles? Denn das musste er dringend, ehe seine ganze Geschichte als strategischer Schwindel aufflog, die er nur deshalb ersonnen hatte, um sich aus der Affäre zu ziehen.
Sein Vater kannte da keine Gnade. Das wusste er. Andererseits konnte er keinen Schritt mehr ohne Beobachtung machen. Gar das Haus zu verlassen war so unmöglich wie zu Fuß auf dem Mond zu landen. Da wäre vielleicht sogar ein Gefängnisausbruch leichter gefallen.
Nun, er wäre nicht seines Vaters Sohn gewesen, der Sohn des berühmten und nicht minder gefürchteten Hansekaufmannes Georg Wetken, hätte er nicht den Verstand aufgebracht, sich dahingehend erneut eine passende Strategie einfallen zu lassen.
Und weil das besonders schnell gehen musste, hatte er dabei noch nicht einmal die Zeit mehr, sich seiner Sehnsucht nach Adele hinzugeben, ihrem für ihn unendlich lieblichen Anblick, ihrer Stimme, die in seinen Ohren wie Engelsgeläut klang. So kam es, dass er noch vor dem Abend es schaffte, endlich von seinem Vater vorgelassen zu werden. In einer äußerst dringlichen Angelegenheit, wie er hatte ausrichten lassen.
Ein sehr missmutiger Georg Wetken erwartete ihn. So missmutig, wie Johann ihn selten erlebt hatte. Und bevor noch Johann auch nur einen Ton von sich geben konnte, bellte er seinen Sohn ärgerlich an:
„Dringende Angelegenheit, wie? Was, zum Donnerwetter, kann denn da so dringend sein?“
„Es geht darum, möglichen Schaden rechtzeitig abzuwenden!“, behauptete Johann und gab sich dabei alle erdenkliche Mühe, seiner Stimme jenen festen Klang zu verleihen, den sein Vater von einem möglichen Nachfolger erwartete.
„Schaden für wen? Für dich?“
Oh, das sah sein Herr Vater durchaus richtig, obschon es nun an Johann lag, ihn schleunigst von diesem Standpunkt wieder herunter zu bringen und ihn in die gewünschte Richtung zu bugsieren, ohne dass es diesem natürlich bewusst werden konnte.
Eine Aufgabe, die alles andere als leicht war. Obwohl er als Sohn natürlich einen gewissen Bonus hatte im Umgang mit seinem Vater, trotz alledem, was es derzeit für Missstimmung zwischen ihnen gab.
Georg Wetken musterte seinen Sohn von Kopf bis Fuß, doch es war erkennbar, dass sich in sein Misstrauen bereits so etwas wie Neugierde eingeschlichen hatte.
Das sah Johann als besonders positives Zeichen. Jetzt musste er es nur noch schaffen, keinen Fehler zu begehen. Noch nicht einmal den geringsten wohlgemerkt!
Er spürte, dass seine innere Nervosität, die er eigentlich bereits auf dem Höhepunkt gewähnt hatte, jetzt sogar noch anstieg, allen Befürchtungen zum Trotz. Es schien sich eine unsichtbare Hand um seine Kehle zu klammern, um ihn zu ersticken.
Wie