Sie sah zu ihm hinüber.
Er saß ruhig am Steuer. Seine Stirn hatte sich ein klein wenig in Falten gelegt. Er hob die Augenbrauen.
„Abstand?“, fragte er.
„Ja.“
„Abstand wovon?“
„Ich weiß nicht, ob dich das interessiert...“
„Doch, es interessiert mich, Elsa. Weil du mich interessierst.“
Das hatte er nett gesagt, fand sie. Und es ging ihr ganz warm den Rücken hinunter.
„Es ist eine sehr persönliche Sache“, sagte sie. „Und sehr unangenehm...“
Sie wurde sich schnell darüber klar, dass er daraus nicht schlau werden konnte. Sie redete einfach so, wie ihre Gedanken kamen, aber wie sollte er das verstehen.
Er sah kurz zu ihr hinüber.
„Eine Liebesgeschichte?“
„Nein.“
„Was dann?“
„Meine Eltern...“
Sie schluckte.
„Was ist mit ihnen?“
„Sie haben sich gerade scheiden lassen. Jetzt, nach so vielen Jahren...“
Sie sah es ihm an, was er dachte. So etwas passiert doch jeden Tag. Jeden Tag dutzendmal, hundertmal, tausendmal... Kein Mensch regte sich über so etwas auf.
„Es hat mich sehr mitgenommen“, fügte sie hinzu, als müsste sie etwas erklären.
„Ich verstehe...“
Er verstand es nicht, davon war sie überzeugt. Aber er tat immerhin so, und das war nett.
„Ich habe immer gedacht, dass zwischen meinen Eltern alles in Ordnung wäre“, sprudelte es aus ihr heraus. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie sich früher viel gestritten haben. Ich meine, in anderen Ehen gibt es Gewalt und Alkohol und so etwas - und die werden nicht geschieden...“
„Wie alt bist du?“, fragte er.
„22. Warum?“
„Du bist eine erwachsene Frau.“
Sie glaubte zu verstehen, was er meinte.
„Ja schon, aber...“
„Und deine Eltern sind ebenfalls erwachsene Menschen, nicht wahr?“
„Ich weiß. Mein Verstand weiß das. Mein Gefühl glaubt es nicht. Verstehst du das, Robert? Dass die eine Hälfte von dir etwas weiß, die andere es aber nicht wahrhaben will?“
„Ja.“
Mein Gott, dachte sie. Ich kenne ihn seit gestern Abend, und schon erzähle ich ihm meine ganze Familiengeschichte. Sie hätte noch weiter gesprochen, wenn sie sich nicht plötzlich gebremst hätte.
Sie musste an ihren Arzt denken.
Elsa hatte immer wieder unter psychosomatischen Beschwerden gelitten. Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Hautausschläge und anderes.
Und dann hatte sie dem Arzt plötzlich Dinge erzählt, die ihn eigentlich nichts angingen. Und die auch gar nicht in den Bereich eines Arztes fielen. Von ihren Problemen mit Männern und ihren Eltern und tausend anderen Dingen. Ihrer Angst, das Studium eines Tages ohne Prüfung aufgeben zu müssen.
Sie hatte diese Angst, die Prüfung nicht zu schaffen, schon gehabt, als sie gerade das Abitur hinter sich gebracht hatte. Und vor dem Abitur hatte sie auch Riesenangst gehabt - seit sie das Gymnasium besuchte.
Im Grunde genommen hatte sie ihr ganzes Leben lang Angst davor gehabt, dieses und jenes nicht zu schaffen.
Der Arzt hatte ihr gesagt, dass sie jemanden brauchte, bei dem sie sich aussprechen konnte. Einen Psychotherapeuten. Einer, der dafür ausgebildet war.
„Ich bin doch nicht verrückt!“, hatte sie dem Arzt empört geantwortet. Aber vielleicht hatte der Arzt recht gehabt.
Vielleicht brauchte sie so jemanden. Eine Art Pfarrer, der ihr die Beichte abnahm.
Plötzlich hörte sie Roberts ruhige Stimme. Sie klang warm in ihren Ohren. Warm und sicher.
„Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, erst einmal eine Reise zu unternehmen“, meinte er. „Das lenkt einen etwas ab, nicht wahr?“
„Ja, das stimmt.“
Robert jagte den Landrover die schmale Küstenstraße entlang. Eine Weile schwiegen sie beide.
Dann fragte Elsa plötzlich: „Wie alt bist du eigentlich?“
In diesem Moment kam ein Wagen von vorne. Er schoss um eine unübersichtliche Kurve herum und kam dabei ziemlich weit auf die andere Fahrbahn. Robert musste im letzten Moment ausweichen.
„Idiot!“, schimpfte er vor sich hin.
Auf ihre Frage kam er nicht mehr zurück. Sie fuhren weiter in der Umgebung herum, und auf diese Weise sah Elsa etwas vom Land. Einmal stiegen sie an einer schönen Stelle aus. Ein Steilhang ging zum Meer hinab. Weiter oberhalb lagen grüne Hügel.
„Man denkt immer an Wüste, wenn von Nordafrika die Rede ist“, meinte sie. „Unwillkürlich denkt man an Wüste. Aber wenn man mit dem Schiff von Algeciras hier ankommt, dann sieht man schon diese grünen Flächen auf den Hügeln...“
Er lachte.
„Ja.“
„Seit wann bist du hier, Robert?“
„Schon ein paar Jahre.“
„Du lebst hier?“
„Ja.“
Ihr fiel ein, dass er Arabisch sprach. Ja, er schien wirklich hier zu Hause zu sein.
„Ich habe ein Haus unweit von Tanger“, meinte er. „Es liegt direkt am Meer.“
„Und du kannst deine Geschäfte von hier aus abwickeln?“, fragte sie. Sie wollte nicht zu neugierig erscheinen, aber jetzt interessierte es sie doch ziemlich stark, womit er sein Geld verdiente. Was mochten das für Geschäfte sein, die man von einem Ort wie Tanger aus erledigen konnte?
Wie ein Teppichhändler sah er jedenfalls nicht aus.
Er blickte sie an und strich ihr über das Haar, das sie zu einem Knoten zusammengesteckt hatte.
„Manchmal muss ich für einige Zeit verreisen“, sagte er. „Aber das meiste geht von zu Hause aus... Möchtest du mein Haus mal sehen?“
Sie schob sein Jackett beiseite und legte ihren Arm um seine Hüften. Sie nickte.
„Ja, warum nicht?“
Sie fühlte seinen Arm um ihre Schultern und war wie elektrisiert. Es ist wie in einem Traum, dachte sie. Ein Traum...
Sie gingen zum Auto zurück, und Robert ließ den Motor an. Dann brauste der Landrover los.
Es geht alles so schnell, dachte sie. Aber sie hatte ein gutes Gefühl.
Sie fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr, schon sehr lange. All die trüben Nebel schienen aus ihrem Bewusstsein hinausgefegt worden zu sein.
Robert drehte die Stereo-Anlage an. Kühle, abgedämpfte Trompetentöne, die aus dem Nichts zu kommen schienen...
„Was ist das für Musik?“, fragte sie.
„Miles Davis. Ein Jazztrompeter.“
Der Name sagte ihr nichts. - Aber sie mochte diese Musik nicht.
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