Mit einem rauen Stoß beförderte der Däne den Angreifer dann in den Sand. Mit ungläubigen, weit aufgerissenen Augen machte er sich davon.
Das Messer blieb im Sand liegen.
Elsa hatte die ganze Zeit über wie angewurzelt dagestanden.
„Mein Gott!“, entfuhr es ihr.
Der Däne sah sie an.
Sein Gesicht wirkte entspannt und gelassen. Immer noch schien er ein wenig unterkühlt zu sein.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
Sie nickte.
„Ja.“
„Dann ist es ja gut...“
„Ja... Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn Sie nicht gewesen wären.“
Sie wussten beide, was geschehen wäre.
Aber das war im Moment nicht so wichtig.
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass er akzentfreies Deutsch gesprochen hatte. Bestes Hochdeutsch. Keinerlei landschaftlicher Einschlag festzustellen. Jedenfalls nicht für Elsa.
Sein Pass war der eines Dänen, aber er hätte auch als Deutscher durchgehen können. Ohne weiteres. Er wäre nirgends als Fremder aufgefallen.
Sie dachte daran, dass sie ihn auch Arabisch und Französisch hatte sprechen hören. Er musste sehr sprachbegabt sein.
„Kommen Sie mit?“
Er runzelte die Stirn.
„Wohin?“
„Zur Polizei.“
„Was wollen Sie dort?“
Sie blickte ihn verständnislos an.
„Aber... Ich meine, diese Typen...“
„Glauben Sie mir, Sie werden mehr Probleme bekommen, als die.“
„Aber es geht doch um... Gerechtigkeit. Ich meine, da kann doch nicht einfach jemand hergehen und einen... „
Er zuckte mit den Schultern und schien ziemlich ungerührt zu sein.
„Hat irgendjemand behauptet, dass es in der Welt gerecht zugeht?“
„Nein, natürlich nicht...“
„Sie können selbstverständlich tun und lassen, was Sie wollen, aber ich gebe Ihnen den Rat, nicht zur Polizei zu gehen. Fehlt Ihnen denn was?“
„Nein...“
„Sind Sie verletzt? Ist irgend etwas Ernsthaftes passiert?“
„Nein, Sie sind ja gerade noch rechtzeitig dazwischen gekommen!“
„Dann sollten sie die Sache auf sich beruhen lassen! Glauben Sie mir. Ich lebe schon eine ganze Weile hier...“
„Aber Sie haben doch alles gesehen! Wenn Ihre Aussage...“
„Sie stellen sich das falsch vor“, meinte er. „Dies ist ein sehr bürokratisches Land. Und eines, in dem Beziehungen eine wichtige Rolle spielen. Vor allem verwandtschaftliche. Wissen Sie was passiert, wenn Sie einen Polizisten nach dem Weg fragen?“
„Nein.“
„Er wird Sie an einen Fremdenführer vermitteln. An irgendeinen entfernten Vetter. Dieser Fremdenführer macht das natürlich nicht umsonst. Er gibt dem Polizisten was, der die Sache vermittelt, hat und bringt Sie dann an Ihr Ziel. Aber nicht auf direktem Wege. Er geht davon aus, dass Sie sich hier nicht auskennen und wird Sie erst einmal an ein paar Geschäften vorbeibringen, mit deren Besitzern er entweder verwandt oder befreundet ist und von denen er vermutlich auch etwas dafür bekommt, dass er Touristen zu ihnen ins Geschäft lockt.“ Er lächelte jetzt ein wenig. „So funktioniert das Leben hier. Das gilt für alle Bereiche. Begreifen Sie jetzt, weshalb ich es nicht für sinnvoll halte, zur Polizei zu gehen?“
„Ich weiß nicht...“
„Eine ordnungsliebende Deutsche, die es gewohnt ist, dass alle Beamten unbestechlich sind und alles gut organisiert ist!“
„Machen Sie sich nicht über mich lustig!“
„Das tue ich nicht. Ganz bestimmt nicht.“
„Wie heißen Sie?“ Es interessierte Elsa auf einmal, was das für ein Mann war, der hier vor ihr stand. Es hatte sie schon gestern in der Post interessiert, aber da war es ihr nicht so bewusst gewesen.
„Ich heiße...“ er schien einen Moment zu zögern, bevor er weitersprach. Elsa konnte sich dieses Zögern nicht erklären. Sie dachte auch nicht weiter darüber nach. Später, viel später sollte es ihr verständlich werden.
„Jensen“, sagte er. „Robert Jensen.“
Er war Däne, sie hatte seinen Pass gesehen. Und sein Name klang wie ein dänischer Name jedenfalls soweit sie das beurteilen konnte. Es war ein Allerweltsname. Dieser Name konnte ebenso gut einem Deutschen, einem Holländer oder einem Belgier flämischer Zunge gehören. Nicht zu vergessen die anderen skandinavischen Länder.
Sie maß dieser Tatsache kaum eine Bedeutung bei, sie dachte einfach so darüber nach.
„Und Sie?“, fragte er dann. „Wie ist Ihr Name?“
Man konnte wirklich keinen Akzent hören. Nicht einmal eine gewisse Unsicherheit in der Auswahl von Wörtern.
„Elsa“, sagte sie. „Elsa Karrendorf.“
„Woher kommen Sie in Deutschland?“
„Osnabrück.“
„Nicht gerade eine Weltstadt. Aber ich war schon einmal dort.“
„Sie sprechen gut Deutsch.“
„Danke.“
„Sie scheinen überhaupt recht sprachbegabt zu sein... Französisch, Arabisch...“
„Ja, es ist besser, man versteht, was die Leute sagen. Sie bescheißen einen dann nicht so leicht. Jedenfalls ist das meine Erfahrung.“
„Fremdsprachen waren mir immer ein Gräuel.“
„Das ist schade.“
„Ein bisschen Englisch in der Schule. Es ist gerade genug hängengeblieben, dass ich mich durchschlagen kann...“
„Na ja, es gibt so viele deutsche Touristen... Man liest jetzt auch hier Schilder mit der Aufschrift 'Man spricht Deutsch' und 'Dortmunder Kronen'!“
„Ja!“ Sie lachte. „Und 'Wiener Schnitzel'!“
Er lachte jetzt auch und entblößte dabei zwei Reihen makelloser Zähne.
Dann fragte Sie: „Woher kommen Sie - in Dänemark?“
Er runzelte etwas die Stirn. Dann schmunzelte er etwas.
„Mein Deutsch scheint doch nicht so gut zu sein, wenn man gleich hört...“
„Nein, ich habe gestern auf der Post Ihren Pass gesehen.“
„Ich verstehe...“
„Also, woher?“
„Kleines Nest. Kennen Sie bestimmt nicht. Und ich war auch schon lange nicht mehr dort. Schon sehr lange... Wahrscheinlich würde ich es gar nicht wiedererkennen.“
Sie stand vor ihm und fühlte sich plötzlich etwas verlegen. Ein paar Augenblicke lang hielt das unangenehme Schweigen an.
Dann meinte er plötzlich: „Soll ich Sie zu Ihrem Hotel bringen?“
Sie nickte. Er vermittelte ihr das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit; ein Gefühl, nachdem sie gerade jetzt, nach diesem unangenehmen Vorfall,