«Chris! Mein Gott! Du bist verletzt! Hier, nimm das Taschentuch! Ist dir schwindlig? Hast du Kopfschmerzen? Wo tut’s dir sonst noch weh? Kannst du aufstehen? Kannst du überhaupt reden?»
Wie auch, wenn sie dauernd Fragen stellt?
«Chris? Sag etwas!»
«Easy», murmle ich.
Erleichtert seufzt sie auf. «Ich dachte, du bist in Ohnmacht gefallen! Wegen des Bluts. Kannst du aufstehen?»
Blut? Erst jetzt merke ich, dass mir etwas Warmes in den Mund rinnt. Ich fahre mit dem Handrücken darüber. Es ist tatsächlich Blut. In dem Moment beginnt der Lautsprecher zu knistern, und eine Stimme erklärt, dass wir einen Unfall hatten. Das habe sogar ich gemerkt, und ich bin bekanntlich nicht der Schnellste. Der Tramfahrer bittet alle Passagiere, sitzen zu bleiben, bis die Polizei die Aussagen aufgenommen habe. Kaum ist er verstummt, öffnen sich die Türen.
Auf allen Vieren krieche ich zum hintersten Ausgang. Mein Gesicht schmerzt höllisch, und ich frage mich, ob etwas gebrochen sei.
«Wo gehst du hin?», ruft Julie. «Chris! Der Tramfahrer hat gesagt …»
«Julie, halt die Klappe!»
Als ich ihren geschockten Ausdruck sehe, tut es mir leid. Aber wenigstens ist sie jetzt still. Draussen presse ich mich gegen die Längsseite des Trams. Stadteinwärts leitet ein Polizist den Verkehr um. Schräg gegenüber befindet sich ein Quartierladen, vor dem sich Menschen versammelt haben und gaffen. Ich spurte geduckt über die Strasse und höre, wie Julie mir folgt. Niemand beachtet uns. Wir mischen uns unter die Leute. Da alle nach vorne drängeln, werden wir nach hinten gedrückt. Ich löse mich aus der Menge und schleiche zu einem Weg, der zwischen den Häuserblocks durchführt. Julie ziehe ich mit, sie leistet keinen Widerstand. Wir sind schon in der nächsten Querstrasse, als sie plötzlich stehen bleibt.
«Was hast du vor? Wo gehen wir hin?»
«Es sind nur noch zwei Stationen bis zur Endhaltestelle», erkläre ich. «Dort nehmen wir den Bus.»
Sie schnieft und blickt zurück. In der Ferne hören wir Sirenen. Es hört nicht auf zu regnen, Julies braunes Haar ist vor Nässe dunkel. Ihr Schirm liegt im Tram. Ich frage mich, ob der Russe weiss, wie das Regenverdeck des Kinderwagens funktioniert.
Wir sind schon fast an der Endhaltestelle angelangt, als mein Handy läutet.
Es ist nur Leo. «Hey!», begrüsst er mich. «Ich habe mich bei der Kontaktperson gemeldet. Aber ich kann den Russen erst heute Abend treffen.»
«Das ist zu spät!»
«Entweder ist er nicht flüssig, oder er ist mit Lily beschäftigt. Ich habe trotzdem abgemacht. 21 Uhr am Hauptbahnhof.»
«Bis dann ist mein Vater längst zurück!»
«Das ist nur Plan B. Ich verfolge eine heisse Spur im Netz. Gib mir noch ein bisschen Zeit. Ich finde die Adresse heraus, versprochen! Wie läuft’s bei euch? Hat sich Nic gemeldet? Bist du schon bei deiner Mutter?»
Ich erzähle ihm, was geschehen ist. Er flucht leise. Ich stelle mir vor, wie er hin- und hergeht, das Handy am Ohr, den Ellenbogen abgewinkelt.
«Halt durch, Indianer, wir schaffen das!», macht er mir Mut.
Ich nicke und löse damit eine neue Schmerzwelle aus. Ich muss das Blut wegwaschen, so kann ich unmöglich in den Bus.
Zwischen den Häuserblocks sehe ich einen Spielplatz. Ich steure darauf zu, weil es dort oft Brunnen gibt.
Julie hat wieder begonnen, auf ihren Fingernägeln herumzukauen. «Meinst du, der Fahrer ist tot?», flüstert sie.
Einen Moment lang begreife ich nicht, welchen Fahrer sie meint. Erst dann sehe ich den alten Mann im Auto wieder vor mir.
Neben dem Sandkasten steht tatsächlich ein Brunnen, aber er ist abgestellt. Der Ablauf ist mit Blättern vollgestopft, Regenwasser hat sich am Boden gesammelt. Ich mache mein Taschentuch nass und tupfe mir die Nase ab. Mir wird sofort schwindlig.
«Lass mich», sagt Julie. Sie kramt ein frisches Taschentuch hervor und taucht es ins Wasser.
Ich muss fast vor ihr auf die Knie gehen, damit ich auf gleicher Höhe bin wie sie. Sorgfältig wischt sie mir das Blut aus dem Gesicht.
Es fühlt sich an, als würde sie mir mit einem Hochdruckreiniger die Nase säubern. «Deine Nase ist geschwollen», stellt sie fest. «Du musst zum Arzt!»
«Später», nuschle ich.
Ich mache mich auf einen Proteststurm gefasst, doch er bleibt aus.
Stattdessen nimmt Julie meine Hand. Normalerweise hat sie kaum einen Blick für mich übrig. Sie taucht ein neues Taschentuch ins Wasser und wischt mir das Blut vom Handrücken weg.
Dass ich glaubte, sie wolle meine Hand halten, ist mir peinlich. Rasch schiebe ich mir die Kopfhörer über die Ohren.
Julie wirft die Papiertaschentücher weg und marschiert Richtung Strasse. Mir kommt es vor, als seien meine Schuhsohlen mit Blei gefüllt. Nur meine Nase fühlt sich lebendig an.
Der Bus wartet schon. Der Fahrer steht auf der Strasse und raucht, also brauchen wir uns nicht zu beeilen. Trotzdem steigen wir sofort ein. Julie lässt sich auf einem Fensterplatz nieder, ich setze mich hinter sie. Der Regen rinnt die Scheibe hinunter. Mein Blick bleibt an einem Tropfen hängen, der sich nicht entscheiden kann, wohin er will. Ganz langsam bahnt er sich einen Weg nach unten, doch bevor er die Fensterdichtung erreicht, löst er sich auf. Das möchte ich auch können. Mich einfach auflösen und von der Erdoberfläche verschwinden.
Als der Chauffeur den Motor startet, streift mein Blick die Uhr an der Haltestelle.
11:25
Ist es wirklich erst zwei Stunden her, seit Lily gekidnappt wurde? Mir kommt es vor, als irrte ich schon mein halbes Leben durch die Stadt. Ich habe immer noch nichts gegessen, aber mein Magen hat längst aufgehört zu knurren.
Ob der Russe weiss, dass er Lily füttern muss? Kennt er sich mit Kindern aus? Wenn sie Hunger hat, brüllt sie wie am Spiess. Sie macht sogar dem Baulärm vor unserer Haustür Konkurrenz. Seit die Leitungen dort ersetzt werden, geht der Krach jeden Morgen um sieben los. Lily beginnt meist schon früher. Beim Schreien verfärbt sich ihr Gesicht dunkelrot, und der Schnittlauch auf ihrem Kopf zittert, als stehe er unter Strom. Kaum schiebt man ihr den Löffel in den Mund, hört sie auf. So, als hätte jemand den Stecker ausgezogen.
Was, wenn der Russe keinen Brei hat? Keine Bananen? So wie ich Lily kenne, wird sie weitermotzen. Vielleicht wird es dem Russen zu viel, und er gibt sie zurück. Oder er bringt sie sonst irgendwie zum Schweigen. Stopft ihr zum Beispiel den Mund. Ich habe schon von Eltern gehört, die ihr eigenes Kind getötet haben, nur weil es nicht aufgehört hat zu schreien. Mein Magen macht einen Salto.
Als Regina mir damals gesagt hat, sie sei schwanger, liess mich das kalt. Für mich änderte sich wenig. Lily würde bei Regina wohnen, ich hätte mein Zimmer immer noch für mich. Dass mein Vater noch weniger Zeit haben würde, gefiel mir sogar, weil ich dadurch öfters sturmfrei hätte. Als Lily dann zur Welt kam, kam sie mir gar nicht wie ein Mensch vor. Eher wie ein Hefeteig. Der lebt auch, aber man merkt nicht viel davon, ausser, dass er aufgeht.
Jetzt merke ich, dass sie mir nicht egal ist. Sie ist meine Schwester. Wenn der Russe ihr auch nur ein Haar krümmt, wird er etwas erleben.
Mam wohnt in einem dreistöckigen Block mit Seesicht. Die Mauern sind ganz weiss wie in einem dieser Prospekte für Griechenland-Ferien. Sie behauptet zwar immer, sie müsse unten durch, weil sie so wenig Alimente bekomme. Über Geld haben meine Eltern schon gestritten, als sie noch verheiratet waren. Mam ist sauer, weil mein Vater sein Studium abgebrochen hat, um Polizist zu werden. Sie reibt ihm immer wieder unter die Nase, wie unser Leben hätte aussehen können, wenn er einen anständigen Lohn heimgebracht hätte. Was sie