Kurz überlegte ich, alleine zum Supermarkt zu laufen. Lily mitzunehmen, war umständlich. Was aber, wenn mein Vater inzwischen zurückkehrte? Er wäre stinksauer. Ich spürte seine Wut, als stünde er direkt vor mir. Viele fürchten sich vor ihm. Er ist breit wie eine Tiefkühltruhe und manchmal genauso kalt. Aber das macht mir nichts aus. Es sind seine Augen, die mir Angst einjagen. Er braucht mich nur anzusehen, und schon fühle ich mich wie ein aufgespiesster Schmetterling.
Ich klemmte mir Lily unter den Arm, packte mit der freien Hand den Kinderwagen und schleppte beide die Treppe hinunter. Mein Magen knurrte.
Draussen in der Kälte erholte sich meine Nase wieder. Nebel hüllte das Quartier ein, so dass die Umrisse der Gebäude verschwammen. Das gab mir ein gutes Gefühl, fast, als wäre ich auch in eine Decke eingehüllt. Ein Velofahrer tauchte aus dem Nebel auf und sauste an mir vorbei. Ich schaltete meine Musik ein und atmete tief durch. Mit Reggae in den Ohren waren verschissene Windeln nur noch halb so schlimm.
Das Nichts ist immer noch da. Keine Ahnung, wie lange ich schon hier stehe und darauf starre. In einer Hand halte ich die Packung Windeln, die ich gekauft habe, mit der anderen streiche ich mir die Haare aus dem Gesicht. Egal, wie oft ich blinzle, Lily bleibt weg.
«Söll i ga, söll i bliibe, z zweite oder ällei?», singt Phenomden. Woher weiss er, was mir durch den Kopf geht? Wie kommen die Kopfhörer überhaupt wieder auf meine Ohren?
Ich versuche zu überlegen, doch mein Gehirn macht nicht mit. Ich schwebe zwischen Wirklichkeit und Traum. Ein Teil von mir will nicht begreifen, was meine Augen sehen. Vielleicht versteckt sich Lily irgendwo. Sie mag es, wenn Sachen verschwinden und wieder auftauchen. Manchmal verbirgt sich mein Vater hinter einer Zeitung. Dann reisst Lily die Augen auf, doch bevor sie losheulen kann, guckt er hervor und verzieht das Gesicht zu einer witzigen Grimasse. Lily ist jedesmal total überrascht. Ich auch. Nicht, weil er wieder da ist, sondern weil ich gar nicht gewusst habe, dass mein Vater den Clown spielen kann.
Ganz ist mein Gehirn wohl doch nicht ausgeschaltet, denn mir ist klar, dass Lily nicht alleine verschwunden ist. Sie kann nicht einmal gehen. Also hat sie jemand anderswo parkiert. Vielleicht hat sie zu sehr gestunken. Ich drehe mich im Kreis und suche den Laden mit den Augen ab. Es wimmelt von Menschen.
Lily ist nicht unter ihnen.
Meine Finger greifen nach dem Zigarettenpäckchen in meiner Gesässtasche. Bevor ich nach draussen gehe, schaue ich bei den Toiletten nach. Ausser einer Kopiermaschine ist dort nichts. Es hat zu regnen begonnen. Der Himmel sieht aus wie ein Betondach. Ich stecke mir eine Zigarette zwischen die Lippen.
Kein einziger Kinderwagen steht unter dem Vordach. Rufen würde nichts nützen. Lily kann nicht antworten, sie begreift nicht einmal, dass sie Lily heisst. Lily June, genau genommen, aber niemand sagt ihr so. Mein Vater nennt sie Junebug, was auf Deutsch Junikäfer heisst. Ein Junikäfer ist eigentlich ein Schädling, der sich an Menschen festhakt, weil er sie für Bäume hält.
Ich nehme einen tiefen Zug von meiner Zigarette. Das Nikotin besänftigt meine flatternden Nerven. Doch dann meldet sich mein schlechtes Gewissen. Ich denke an amputierte Raucherbeine und zugeteerte Lungen. Kommt davon, wenn man eine Ärztin zur Mutter hat. Eigentlich ist sie Psychiaterin, aber vorher hat sie Medizin studiert. Mam erklärt mir immer wieder, dass Tabak nicht beruhigt. Er putsche sogar auf, sagt sie. Aber weil ein Raucher nikotinabhängig ist, reagiert er mit Entzugserscheinungen, wenn er zu lange nicht qualmt. Man wird zum Beispiel unruhig. Das Ganze ist eigentlich ziemlich schräg. Tabak bringt die Unruhe zum Verschwinden, die ohne Rauchen gar nicht erst da wäre. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich das kapiert habe. Trotzdem schaffe ich es nicht aufzuhören.
Jetzt sind meine Nerven aber nicht nur wegen des Nikotinmangels ziemlich angespannt. Lilys Verschwinden macht mich viel nervöser. Wer klaut schon ein Baby? Noch dazu ein stinkendes?
Ich beschliesse, eine Runde um das Gebäude zu drehen. Als mir der Regen in den Kragen tropft, kommt mir in den Sinn, dass ich Lily keine Mütze übergestülpt habe. Ich beschleunige meine Schritte, spähe hinter einen Container, zwischen zwei parkierte Autos, öffne die Tür eines Wareneingangs.
«Ha si gsuecht, und ich ha si nöd gfunde», singt Phenomden. Langsam wird mir der Typ unheimlich.
Als ich wieder beim Ladeneingang ankomme, gehe ich nochmals hinein. Irgendwie hoffe ich immer noch, dass ich Lily einfach übersehen habe. Aber das Nichts starrt mich genauso vorwurfsvoll an wie zuvor. Allmählich dämmert mir, dass ich nicht träume.
Lily ist verschwunden.
Meine Knie werden weich. Plötzlich stürzen Bilder auf mich ein: Schlagzeilen über vermisste Kinder; rot-weisses Absperrband, wenn eine Leiche gefunden wird. Fotos von verhafteten Kidnappern mit schwarzen Balken über den Augen. Alles um mich herum dreht sich. Ich lehne mich gegen die Wand, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Jemand packt mich am Arm.
Es ist ein Security-Angestellter, der mich rausbefördert. Er hält mich für einen Junkie. Als er mich loslässt, stolpere ich und stosse mit dem Knie an einen Betonpfeiler. Der Schmerz jagt mir das Bein hoch. Humpelnd entferne ich mich vom Ladeneingang, unsicher, wo ich hin soll. Die Welt erscheint mir plötzlich riesig, Lily darin zu finden, unmöglich.
Die Kirchenuhr schlägt Viertel vor zehn. Sie hört nicht auf, als kündige sie den Weltuntergang an. Ich fühle mich wie in einem billigen Horrorstreifen, bis mir klar wird, dass es mein Handy ist, das läutet, nicht mehr die Kirchenglocken. Das Display zeigt einen unbekannten Teilnehmer an.
«Chris Cavalli?», fragt eine tiefe Stimme.
Ich murmle zustimmend.
«Ich habe deine Schwester!»
«Lily?», krächze ich, als hätte ich mehrere Schwestern.
«Wenn du sie lebend wieder haben willst, hör mir genau zu.»
9:48
Was er mir sagt, ist so ungeheuerlich, dass ich mich auf den Randstein setzen muss. Meine Hosen haben sich mit Wasser voll gesogen, sie kleben mir an der Haut.
Ich habe Mist gebaut.
Mir kommt eine Geschichte in den Sinn. Das passiert mir oft. Geschichten helfen mir, Dinge zu verstehen. Vielleicht habe ich das von meinen Vorfahren geerbt. Indianer verpacken alles in Geschichten. Mein Vater hat mir früher dauernd welche erzählt. Diese handelt von einem alten Cherokee, der an einem kalten Herbsttag einen Pass überquert. Als er die Passhöhe erreicht, sieht er eine Klapperschlange neben dem Weg liegen. Sie ist ganz starr vor Kälte. Der Alte hat Mitleid mit ihr und schiebt sie unter sein Hemd, um sie zu wärmen. Als er ins Tal hinuntersteigt, wacht sie auf. Statt sich zu bedanken, beisst sie ihn. Der Alte zieht sie hervor und fragt, warum sie das getan habe. Schliesslich habe er ihr das Leben gerettet. Da sagt die Schlange: «Du wusstest, dass ich eine Klapperschlange bin, als du mich aufgehoben hast.»
Ich habe auch eine Klapperschlange aufgehoben. Ich habe mich mit einem Typen eingelassen, obwohl er gefährlich ist. Eine richtig üble Schlange. Und jetzt hat sie mich gebissen.
Der Einzige, den ich um Hilfe bitten kann, ist Leotrim. Er hat keine Angst vor Schlangen. Ich glaube, er hat vor überhaupt nichts Angst. «Trim» heisse auf Albanisch «mutig», hat er mir einmal erzählt. In letzter Zeit habe ich Leo nicht viel gesehen. Seit er mit Nicole zusammen ist, hat er keine Zeit mehr. Trotzdem weiss ich, dass er mir helfen wird. Leo lässt seine Freunde nicht hängen.
Mühsam stehe ich auf und gehe zur Bushaltestelle. Ich wohne am Arsch der Welt. Ich muss mit dem Bus zur Endhaltestelle fahren und dann mit dem Tram die ganze Stadt durchqueren. Leo wohnt in der Nähe des Hotels, in dem ich arbeite. Normalerweise ist mir der lange Weg egal. Wenn der Bus den Berg hinunterrollt, vibriert er sanft; da schlafe ich regelmässig ein. Aber jetzt bin ich zu nervös, um abzudriften. Nicht einmal der Reggae-Beat entspannt mich.
Ich sag mir, dass nichts schiefgehen kann. Leo muss mir nur etwas Kohle leihen, dann krieg ich Lily wieder. Das hat mir die Schlange vorhin am Telefon erklärt. Leo weiss, dass ich das Geld zurückzahle. In einer