Plötzlich ist Julie wieder da. Sie streckt mir etwas entgegen.
«Mehr habe ich leider nicht», flüstert sie.
Es sind 80 Franken.
Leo und Nic hören auf zu streiten. Leo flucht leise, kramt in seinen Hosentaschen und zieht einige Münzen hervor. Nic steuert 20 Franken bei.
«Hast du das Flugticket schon gekauft?», fragt Leo.
«Gestern», antwortet Nic.
«Blieb etwas übrig?»
Nic starrt auf ihre Füsse. «Damit habe ich die Prüfungsgebühren bezahlt.»
Deshalb ist Leo pleite. Dass er Nics Reise nach New York bezahlt hat, kommt mir so vor, als habe er absichtlich ein Eigengoal geschossen. Der BMW hätte ihn wenigstens über Nic hinweggetröstet.
«Jetzt fehlen nur noch 860 Franken», sagt Julie. «Überlegen wir lieber, wie wir das Geld zusammenbekommen.»
So ruhig habe ich Julie noch nie erlebt. Kein Quietschen, kein Hüpfen, nichts. Sie steht einfach da und schaut uns an.
Langsam nickt Nic. «Chris, hat der Russe gesagt, wann er das nächste Mal anruft?»
Ich schüttle den Kopf.
«Hört alle mal zu. Wir teilen uns auf: Ich fahre nach Erlenbach. Meine alten Freunde leihen mir bestimmt was. Leo, du setzt dich an deinen PC und findest alles heraus, was es über den Russen zu wissen gibt.» Sie schaut mich an. «Weisst du, wo er wohnt?»
Wieder schüttle ich den Kopf. «Kenne seine Schule.»
«Das nützt uns nichts, heute ist Samstag. Wie hast du ihn kontaktiert, als du ihn angepumpt hast?»
«Über einen Kollegen.»
«Gib Leo die Nummer.» Sie schaut Leo an. «Wenn du fertig bist, rufst du diesen Kollegen an und tust so, als bräuchtest du Geld.»
Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll. Als ich Nic frage, erklärt sie, dass wir auf zwei Schienen gleichzeitig fahren müssten: Geld auftreiben und Lily suchen. Der Kollege werde uns zum Russen führen. Und der Russe zu Lily.
«Und ich?», fragt Julie.
«Du bleibst bei Chris, falls der Russe wieder anruft. Ihr könnt versuchen, die anderen Köche zu erreichen. Vielleicht hat jemand doch frei.»
Endlich schaltet sich mein Hirn wieder ein. Ich schlage vor, zu Mam zu fahren. Vielleicht leiht sie mir das Geld. Nic findet die Idee gut. Sie will, dass Julie mit mir geht. Ich glaube, sie traut mir nicht allzu viel zu.
«Alles klar?», schliesst sie. «Dann nichts wie los.»
Es regnet immer noch. Lily mag Wasser. Manchmal setzt sich mein Vater mit ihr in die Badewanne, dann drischt sie mit den Händen auf die Wasseroberfläche ein, so dass alles nass wird. Wenn es ihr in die Augen spritzt, blinzelt sie erstaunt, als hätte sie nichts damit zu tun.
Julie klappt ihren pinkfarbenen Schirm zu und stellt sich zuvorderst hin, als das Tram kommt. Sie hat die ganze Zeit über kein Wort gesagt. Wir sind schon durch die halbe Stadt gefahren, als sie sich zu mir dreht. «Lebt Lily eigentlich bei euch?», will sie wissen. «Ich meine, bei deinem Vater und dir?»
«Nö.»
«Bei ihrer Mutter?»
An Regina habe ich bis jetzt gar nicht gedacht. Wenn sie erfährt, was passiert ist, flippt sie aus. Sie mag es sowieso nicht, dass Lily bei uns übernachtet, sie will sie immer in ihrer Nähe haben. Mein Vater hat ihr gesagt, sie solle sich entscheiden, ob sie nun Freiraum oder die totale Kontrolle wolle. Seither kommt Lily jeden Freitagabend zu uns und bleibt den Samstag über. An den anderen Tagen ist mein Vater bei Regina.
Eigentlich ist sie ganz in Ordnung. Sie nörgelt nicht andauernd, wie das viele Erwachsene tun, sondern lächelt meistens. Mich findet sie zwar nicht so toll. Wenn sie Lily hält, wird sie weich. Ihr Mund öffnet sich leicht, und die Haut unter ihren Sommersprossen nimmt die Farbe von Erdbeerglacé an. Kaum erblickt sie mich, leuchten die Sommersprossen wieder stärker. Sie presst die Lippen zusammen, bis sie fast verschwinden.
Regina ist Staatsanwältin. Das heisst, sie steht auf der Seite meines Vaters. Staatsanwälte und Bullen arbeiten zusammen. Wenn sie herausfindet, was heute geschehen ist, wird sie bestimmt dafür sorgen, dass ich hinter Gitter komme. Bei Lily hört ihre Freundlichkeit auf. Ich bin jetzt volljährig, da läuft also nichts mehr mit Jugendstrafrecht. Als ich damals auf Einbruchstour ging, fiel die Bestrafung ziemlich locker aus. Ich musste mit einem Sozialarbeiter quatschen, ein Jugendanwalt hat mir einen Arbeitseinsatz aufgebrummt, und schon war ich wieder draussen. Allerdings nur auf Bewährung. Diesmal komme ich nicht so leicht davon.
Ich versuche, nicht daran zu denken, was passiert, wenn ich Lily zu spät zurückbekomme. Aber je mehr ich die Vorstellung verdränge, desto konkreter wird sie. Es ist wie bei einem Pickel: Je mehr man daran herumdrückt, desto grösser wird er.
«Geht Nic echt nach New York?», frage ich Julie.
Ihr Kinn klappt nach unten. Ich weiss nicht, warum meine Frage sie überrascht. Sie nickt und erzählt mir von der DVD, die Nic eingeschickt hat. Für das Auswahlverfahren musste sie ihren Lebenslauf vortanzen, was immer das heissen soll. Da hat sie zu «Etno Engjujt» Ballett getanzt. Das ist ein albanischer Rapper, den Leo mag. Offenbar fand das die Jury cool, nun darf sich Nicole live vorstellen.
«Für Leo ist es ziemlich hart», seufzt Julie. «Aber echte Liebe übersteht auch eine Trennung.»
Über echte Liebe weiss ich nichts, dafür über New York. Mam und ich sind mal zum Christmas Shopping dort gewesen. Ich glaube nicht, dass Nic freiwillig zurückkommen wird. Aber das sage ich Julie nicht.
Sie holt Luft, um etwas zu sagen. Bevor sie loslegen kann, erklingt ein schrilles Läuten.
Es kracht, ich werde nach vorne geschleudert, pralle mit dem Gesicht gegen eine Stange. Julie kreischt auf, hinter uns wettert ein Mann gegen die verdammten Ausländer, die durch die Stadt rasen. Im hinteren Teil des Wagens ist eine Frau gestürzt. Orangen rollen unter den Sitzen durch.
Ich stehe auf, um zu sehen, was los ist. Mich durchzuckt ein heftiger Schmerz. Als ich nach Luft schnappe, tut es noch mehr weh. Julie hängt sich an meinen Arm und redet auf mich ein. Die anderen Passagiere drängen sich ans Fenster. Auf der Strasse steht ein grauer Toyota quer über der Fahrbahn. Die Kühlerhaube hat sich in die Seite des Trams gebohrt. Am Steuer sitzt ein grauhaariger Mann, der auf mich ziemlich schweizerisch wirkt. Er trägt eine wollene Jacke, darunter ein braunes Hemd, das sich an der Schulter langsam rot färbt.
Durch den Aufprall hat sich meine Musik eingeschaltet. Ich stülpe mir den Kopfhörer über die Ohren. Julie bewegt meinen Arm auf und ab, als wäre ich eine Wasserpumpe. Jedesmal jagt mir der Schmerz durch den Kopf. Sie deutet auf die Tür. Stolpernd folge ich ihr. Als sie auf den Knopf drückt, passiert nichts. Ihre Lippen bewegen sich schnell. Jemand hat auf Fast Forward gedrückt.
Julie ist nicht die Einzige, die raus will. Aber die Türen bleiben verschlossen. Trotz Musik nehme ich Polizeisirenen wahr. Auf einmal wird mir eiskalt: Was, wenn mein Vater aufgeboten wird? In Panik werfe ich mich auf den Boden, damit man mich von aussen nicht sehen kann. Überall bewegen sich Füsse.
Von meinem Versteck hinter dem Sofa hatte ich als Kind ein ähnliches Blickfeld. Füsse sagen genauso viel wie Worte. Damals waren es vor allem Mams Füsse gewesen, die sich bewegten. Sie steckten in Absatzschuhen und führten einen seltsamen Tanz auf, als wäre der Boden unter ihnen heiss. Ich konnte Mams Wut spüren, ohne sie zu sehen. Die Füsse meines Vaters hingegen waren ganz ruhig. Nicht einmal seine Zehen wackelten. Zu Hause läuft