«Lu ist draussen», sagt Nic langsam, den Blick auf den Kinderwagen gerichtet.
«Wer ist Lu?», fragt Julie.
«Ein Freund von Mark. Sie haben immer zusammen Tischtennis gespielt. Vor einer Woche ist er entlassen worden.» Sie schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr. «Mark will später mit ihm ins Hotelgeschäft einsteigen. Sie haben einen Businessplan aufgestellt.»
Ich weiss zwar nicht, was ein Businessplan genau beinhaltet, aber es klingt nach Geld. «Hast du seine Adresse?»
«Er hat mir ein Paket von Mark geschickt. Dort stand der Absender drauf. Mit dem Tram wäre ich in zwanzig Minuten dort.»
«Glaubst du, er würde dir Geld leihen?», fragt Julie hoffnungsvoll.
«Lu ist der beste Freund, den mein Vater je hatte. Mark sagt, alle anderen seien nur an seinem Vermögen interessiert gewesen.»
Dass man im Knast Freunde findet, habe ich noch nie gehört. Aber wenn das so ist, hilft uns dieser Lu vielleicht. Ausserdem versteht er sicher, dass die Dinge manchmal anders kommen, als man plant. Ich will mit Nic gehen, aber sie hält mich zurück.
«Es bringt nichts, wenn du mitkommst. Versuch lieber, deine Kollegen zu erreichen.»
Plötzlich habe ich einen Geistesblitz. «Ich könnte schauen, wer im Hotel Dienst hat. Zwei Küchenhilfen sind ziemlich gut drauf. Vielleicht leihen sie mir was.»
«Super», meint sie.
Wir beschliessen, dass Julie mit Nic geht. Ich kreuze im Hotel besser alleine auf. Es ist ein 5-Stern-Hotel, die lassen nicht jeden herein. Es hat mich erstaunt, dass ich dort eine Lehrstelle gefunden habe, mit meiner Vergangenheit. Mir ist heute noch nicht klar, warum. Nach der Schule habe ich zuerst eine Malerlehre begonnen, weil ich gerne zeichne. Ich wusste zwar, dass Wände streichen nicht das Gleiche ist, aber die Kunstschule konnte ich vergessen. Dafür muss man zuerst ins Gymnasium. Keine Ahnung, warum. Für Mam war immer klar, dass ich die Matura machen würde. Sie hat sich nur nie überlegt, dass man dafür ziemlich schlau sein muss, so wie Julie. Als mein Lehrer sagte, dass ich mit meinen Vornoten keine Chance hätte, die Aufnahmeprüfung zu bestehen, engagierte Mam einen Privatlehrer. Stundenlang musste ich mit ihm pauken. Zum Glück sah der Typ bald ein, dass es aussichtslos war. Mich interessieren Gleichungen oder die Kriege der Römer einfach nicht. Ich will auch keine Bücher lesen, in denen sich die Sätze über ganze Seiten erstrecken. Wenn ich am Schluss ankomme, habe ich den Anfang längst vergessen.
Ich fand eine Lehrstelle als Maler und dachte, ich hätte das grosse Los gezogen. Aber ich war nach der Arbeit jeweils so fertig, dass ich morgens regelmässig zu spät kam. Gemalt habe ich nicht viel. Ich musste hauptsächlich Farbkübel schleppen und Böden abdecken. Nach zwei Monaten gab ich auf. Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Auf dem Weg zur Arbeit hörte ich die «Gorillaz». «I’m happy, I’m feeling glad», sangen sie entspannt, während ich vor Frust kaum die Füsse heben konnte. Ich drehte mir einen Joint, und schon nach einigen Zügen fühlte ich mich wie in Watte gepackt. Klar ist es Scheisse, sich mit Drogen zuzudröhnen. Ich bin nicht stolz darauf, dass ich keinen anderen Ausweg sah. Als die «Gorillaz» von der Zukunft zu schwärmen begannen, sah ich das Leben plötzlich mit anderen Augen. «I’m useless, but not for long, a future is coming on.» An der Stelle, wo es hiess: «Finally someone let me out of my cage», blieb ich stehen. Ich wollte auch aus meinem Käfig heraus. Mam bekam fast einen Herzinfarkt, als mein Chef anrief und sagte, ich sei nicht zur Arbeit erschienen.
Die nächsten Monate wurde es zu Hause recht ungemütlich. Ich hing immer öfters mit einem Kollegen ab, den ich von früher kannte. Als wir es satt hatten, uns nichts leisten zu können, kam Timon auf die Idee mit den Einbrüchen. Zuerst fand ich es toll, so viel Bares zu haben. Doch Timon ging immer grössere Risiken ein. Ausserdem kümmerte es ihn nicht, wenn andere auf der Strecke blieben. Als er eine Katze in den Kühlschrank sperrte, wollte ich aussteigen. Da drohte er, mich fertigzumachen. Kurz darauf wurden wir erwischt. Timon steckten sie in ein Erziehungsheim. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Er ist einfach verschwunden, wie das Badewasser, wenn man den Stöpsel zieht. Lily ist jedesmal völlig überrascht. Aber ich weiss, dass das Wasser irgendwo wieder rauskommt. Timon wird wieder auftauchen.
Ich bin schon fast beim Hotel, als Leo anruft. «Hey, Indianer, good news! Ich hab die Adresse!»
«Echt?»
«Seid ihr noch am Bahnhof?»
«Bin auf dem Weg ins Hotel.» Ich erzähle ihm, dass wir nur noch 680 Franken brauchen.
«Wo sind Julie und Nic?»
«Im Zweier.»
«Warum? Wo fahren sie hin?»
«Nic kennt einen Typen, der entlassen wurde und Kohle hat.»
Am anderen Ende ist es still.
Ich will schon fragen, ob Leo noch dran ist, als er losschreit: «Du hast die Mädchen zu einem Ex-Knasti geschickt? Alleine? Spinnst du?»
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