heute wirst du gehenbleiben. Gertraud Löffler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gertraud Löffler
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783749794089
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Person eigentlich das Recht, ihn so abzuurteilen?

      Wie kam es, dass sie ihn so in Rage brachte? Wann war er zuletzt so in Aufruhr gewesen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Und eine Sache brannte in Martin. Die Frage, auf was sie ihn gestoßen hatte, als in seinem Kopf plötzlich aus einem fernen Winkel eine Frauenstimme nachklang wie aus einem früheren Leben. Wie ähnlich sie klangen, die von Lizzy und die andere, die er vielleicht nur halluziniert hatte! Unterschiedlich alt, aber der gleiche Nachdruck. Die gleiche Überzeugung! Der feste Glaube an das, was ausgesprochen wurde. Noch immer pochte sein Herz heftig und die Hände zitterten vor ungewohnter Erregung. Oder schlug der Virus in ihm nun endgültig zu? Heiß war es hier drinnen. Doch das Fenster öffnen? Er kippte es einen Spalt weit. Der kühle Luftzug erfrischte die erhitzte Stirn. Innen drinnen kochte es noch. Wut lässt sich nicht weglüften. Martin lief verärgert an diesem unberechenbaren weiblichen Vulkan vorbei, den er sich dummerweise freiwillig ins Haus geholt hatte. Unruhig tippelte er neben dem Tisch auf und ab. Ein Gedanke klammerte sich mit Widerhaken in seine Magengrube. Wie würde er diese feuerspeiende Unbekannte jemals wieder los?

      Er war ein Fremder in seiner eigenen Küche. Wie ausgesperrt aus seiner Privatsphäre, als wäre die Türe hinter ihm ins Schloss gefallen. Sein Kopf blieb leer. Was konnte er tun? Hatte er nicht noch irgendwo eine Flasche Rotwein stehen?

      Normalerweise trank er nicht, aber jetzt spürte er Gelüste nach der beruhigenden Wirkung von Alkohol, wenn der erste Schluck von innen Arme und Beine wattiert und die Gliedmaßen angenehm schwer in weiche Kissen plumpsen ließ. Wie spät war es eigentlich? Später Nachmittag.

      Verdammt! Warum war es ihm nicht möglich, dem ganzen Durcheinander ein Ende zu setzen? Anstatt diese junge Dame vor die Türe zu setzen, war er es, der festsaß. Sein seit Jahren im wahrsten Sinne des Wortes fester Wohnsitz hatte sich durch ihre Anwesenheit in eine seismisch aktive Zone verwandelt. Genauso gut könnte der Boden unter ihm der Atlantik sein, durch das ein Seebeben schaukelt. Und eine unsichtbare Hand hatte sein Seelenleben in eine Nussschale gesetzt, die nun als Spielball auf den Wellen im freien Gewässer aufund ab hüpfte. Gehörte diese Hand der eigenartigen jungen Frau? Loswerden wollte er sie, und doch auch wieder nicht. Sie transportierte nicht Greifbares und genau dies griff nach ihm…

      Sicherlich sollte er nicht so viel nachdenken. Besser war es, schleunigst den Anker Richtung Bett auszuwerfen, Schlaf zu tanken und das Mädchen hier unbeachtet zurücklassen. Morgen früh würde er sie hinauswerfen und vielleicht wäre sie dann aus seiner Wohnung und aus seinem Kopf für immer verschwunden. Es konnte ihm egal sein, was aus ihr wird. Schließlich kannte er sie kaum. Rein sachlich gesehen, war sie nur ein gestrandeter Teenager! Sollte sie doch lieber selber an ihren Problemen arbeiten und nicht pausenlos ihre politischen Thesen weiterentwickeln!

      Er konnte ihr nicht helfen

      Niemand konnte das. Morgen früh musste sie verschwinden. Oder doch jetzt gleich? Ich könnte es ihr auch sofort sagen, dachte Martin. Mach´s gut Lizzy! Nett, dich kennengelernt zu haben. Hier ist die Tür!

      Stattdessen werkelte er mit dem Rücken zu Lizzy eine Weile an der Spüle herum und eine Flasche Burgunder begann zu atmen. Martin packte sie am Hals und trug sie ins Wohnzimmer.

      Freitag, 20. April. Tante Astrid

      Der Kuraufenthalt an der Ostsee tat so richtig gut. Nicht auf Kassenkosten. Da legte sie Wert darauf und würde auf Nachfragen diese Tatsache mit Sicherheit nicht unerwähnt lassen. Oh, war das herrlich. Man konnte ausgedehnte Strandspaziergänge machen, die Kurherren begleiteten sie bereitwillig und, wenn sie allein sein wollte, pfiff sie das Rudel einfach zurück an die Bar und stahl sich davon. Das Essen schmeckte hervorragend trotz des hohen Prozentsatzes an gesundheitsfördernden Zutaten, das Wetter war brillant und Eile existierte nicht an einem Ort, an dem sich das Meer seit Jahrtausenden ausrollte und zusammenzog, nach dem Sand griff und wieder weit nach draußen wich.

      Entspannte Wochen breiteten sich vor ihr aus wie ein Blumenteppich wie an Fronleichnamsumzügen. Jeder Tag ein Feiertag. Hektik und Stress gab es zu Hause eigentlich auch nicht.

      Sie lebte alleine und ihre nächsten Verwandten, ihre Schwester, deren Mann und ihre Nichte Lizzy wohnten weit genug weg, um nicht selbst in der Funktion als Tante zum täglichen familiären Schwammtuch zu verkommen, welches zwischenmenschliche Verunreinigungen aufsog, Mutter-Tochter-Konflikte wegwischte und spiegelglatte Oberflächen hinterließ. Von solchen Konfliktherden hielt sie sich gerne fern, indem sie eher sporadische Besuche pflegte. Ihr eigenes Leben war geprägt von schwerelosem Herumschwimmen in einem Meer aus Zeit.

      Die Wellen trugen sie bereitwillig durch den Alltag und, wenn sie wollte, kraulte sie eifrig oder glitt einfach so dahin. Aber hier war alles noch entschleunigter als ohnehin. Na, Urlaub eben. Kururlaub. Abends ein paar Vorträge. Man sollte selbstverständlich auch etwas Lernen über rückengerechtes Verhalten, orthopädisch sinnvolle Stühle und Entspannungstechniken.

      Oh und der Strand! Wie herrlich! Vor allem bei Dunkelheit, wenn man die Lichter der Strandpromenade glänzen sah. Der Wind zauste an ihren Haaren und pluderte warme Spätabendluft in ihre Hosenbeine. Beinahe hätte sie ihr Handy gar nicht wahrgenommen. Der Klingelton Meeresrauschen direkt neben dem Meer geht schnell mal unter. Vibrationsalarm in flatternden Leinenhosen auch. Das Display zeigte ihr Schwesterherz an. In letzter Sekunde ging sie ran.

      Freitag, 20. April. Im Wohnzimmer

      Lizzy folgte ihm auf den Fersen und holte mit der Selbstverständlichkeit einer Frau zwei Gläser aus der Vitrine neben dem Fernseher. Fabrikneu sahen sie aus. Absolut unbenutzt! Sie betrachtete sie kurz gegen das gedimmte Licht der indirekten Beleuchtung und erkannte einen feinen Schimmer Kartonagenstaub. „War fast klar“, murmelte sie und bestärkte innerlich ihre Erstanamnese aus dem Café ZEITLOS. Der Typ hatte so gut wie nie Besuch. Und schon gar nicht von einer Frau. Betont elegant platzierte sie die Gläser vor sich auf dem Couchtisch, als hätte sie das schon hundertmal getan, und warf ihre dunkelbraunen Haare zurück. Ohne zu fragen schaltete sie das Radio ein, schnappte sich ein kleines beiges Kissen, klemmte es vor ihren Bauch und machte es sich auf dem Teppich gemütlich. Die Beine angewinkelt, wippte sie lässig zum Takt von „Let me love you“, das aus irgendeinem versteckten Lautsprecher drang. Konnten auch mehrere sein. Der Sound war gut. Technisch fit, der Junge, dachte Lizzy. Das Sofa diente als Rückenlehne. So konnte man es aushalten. Schweigend saßen sie nebeneinander, Martin auf dem Sofa und Lizzy halb versetzt unter ihm. Schluck um Schluck sickerte der Burgunder in zwei völlig unterschiedliche Blutkreisläufe und setzte dort seine Schwingungen frei. Wortlos kreisten tausende Gedanken in den Köpfen, fanden aber den Weg ins Freie nicht. Martins Seufzen durchbrach nach einer Weile die Stille. Sein Zorn war verraucht. „Zum Wohl“, sagte Martin und streckte der jungen Dame hinter dem Kissen sein Glas Wein entgegen. Eine Geste, die Lizzy als Friedensangebot wertete. Seine Gegenargumente, auf die er echt lange hatte warten lassen, waren ziemlich ok gewesen. Hatte sie ihm gar nicht zugetraut. Und- bisher hatte er sie nicht hinausgeschmissen. Wäre ja sein gutes Recht. Freundlichkeit war bisher nicht ihre Stärke… Aber hier war es besser als zu Hause. Eindeutig.

      „Waffenstillstand“, lächelte sie und dieses Wort mischte sich in den Klang der Gläser und der Stimme von Justin Biber aus der Musikanlage. Eine Weile lang nippten sie schweigend. Jeder hing eigenen Gedanken nach und ihre Welten, die unterschiedlicher nicht sein konnten, schienen sich über die nächste Stunde unsichtbar aufeinander zuzubewegen. Leer gewordene Gläser wurden wieder aufgefüllt. Versonnen und mit leicht geröteten Wangen wandte sich Lizzy schließlich zu Martin:

      „Lebst du eigentlich schon länger allein?“

      Martin rutschte langsam eine Etage tiefer und landete weich neben Lizzy auf dem Fell des Flokati. Er hielt sein bauchiges Weinglas direkt vor die Augen und ließ die dunkelrote Flüssigkeit hypnotisierend kreisen. Lizzy war gespannt auf die Antwort. Es machte ihr nichts aus zu warten. Der Burgunder hatte die Uhr angehalten.

      Für einen alleinstehenden Mann kam ihr die Wohnung vor wie ein wahres Ordnungswunder. Wenn sie vergleichsweise an ihr Zuhause dachte, musste sie schmunzeln.

      Ihr Vater stand oft eher wie ein sperriges Möbelstück in der Küche neben ihrer Mutter und fragte nach irgendeinem Gegenstand, den er in dem für ihn fremden Territorium nicht eigenständig orten