heute wirst du gehenbleiben. Gertraud Löffler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gertraud Löffler
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783749794089
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regelmäßig unten im Beratungsraum den Staub einer ganzen Arbeitswoche auf, wo es um heikle Kreditvergaben ging oder um riskante Anlagen. Wenn an guten Tagen der Strudel rund lief wie in einer gleichmäßig gerührten Tasse Tee, dann empfand Martin seinen Job als Wohltat. Aber wehe, jemand steckte einen Keil in das sogenannte Rädchen im Getriebe und blockierte es, dann stockte der gleichmäßige Lauf und bescherte Martin holprige Tage, an denen er mit Unsicherheit und Selbstzweifeln kämpfte. Wie wohltuend war es dann, am Ende solcher zerfleischender Banktage heimzukommen, die Wohnungstür hinter sich ins Schloss schnappen zu hören, das stressschweißige weiße Hemd in den Korb zu werfen und auf den weichen Kissen seines Wohnzimmersofas zu versinken. Je nach Grad der Erschöpfung konnte es sein, dass er für den Rest des Tages noch nicht einmal mehr ans Telefon ging, auch wenn es das erste Mal seit Wochen läutete. Das Sofa trug ihn gedanklich zurück ins Badezimmer.

      An dem unangenehmen Kribbeln in beiden Beinen merkte er, dass er schon eine Weile in dieser durchblutungsfeindlichen Stellung auf der Schüssel gesessen haben musste. Er schreckte hoch, aber die überrumpelten Nerven der Beinmuskeln versagten den Dienst und Martin kippte wie eine ungelenke Holzpuppe nach vorne. Plumps lag er da. Ein nasser vierzigjähriger Sack. Wie er auf den Fliesen lag, bot er ein nahezu groteskes Bild. Ein erwachsener Mann in Embryonalstellung, um die Knöchel eine Hose als Fußfessel, der Nacken verbogen, da die Arme den Aufprall nicht halten konnten. Beide Ellbogen meldeten Schmerzen, obwohl die Fliesen seine Unterarme kühlten. Verdammte Scheiße.

      In dieser Lage hätte es sicherlich geholfen, zur Wiederherstellung der Selbstachtung einfach über sich selbst zu lachen, sich aufzurappeln und die Kleidung zurecht zu klopfen. Aber Lässigkeit hatte seit Jahren keinen Platz mehr in Martins Leben. Eher hätte er versucht, ausgiebig die Situation zu eruieren und sie sich im Kopf zurecht zu legen. Anschließend hätte er eine Gegenstrategie für die Zukunft erarbeitet.

      Warum er heute ausnahmsweise nicht analytisch reagierte, verstand er selbst nicht. Denn diesmal wurde er wütend. Die Wut kam wie ein Aufzug von ganz tief unten heraufgefahren, langsam, Etage für Etage. Unaufhaltsam. Brachte Altlasten ans Tageslicht. Verdammte Scheiße! Verdammte, verdammte Scheiße! Diese blöde Göre in seinem Wohnzimmer war an allem schuld. Was hatte die eigentlich hier verloren? Der Schmerz riss an den Unterarmen. Soll sie sich doch einfach verpissen, blöde Tussi. Wilde und boshafte Gedanken kreisten durch seinen Kopf. „Rausschmeißen, ja rausschmeißen, das mache ich jetzt“, keuchte er, „schließlich ist das meine Wohnung! Ich lass hier rein oder besser noch, ich lasse raus, wen ich will!“ Er hatte sich mühsam aufgerichtet und spürte heißes Blut in seinem Kopf pulsieren, während er die Knöpfe seiner Short schloss. Was kümmerten ihn eigentlich ihre Probleme, soll sie sich doch bei irgendeiner genauso durchgeknallten Teenie-Freundin einnisten! Er war die falsche Adresse. Hier war schließlich kein Rattenloch, wo jedes Ungeziefer von der Straße ungefragt reinkriechen konnte, wie es wollte! Seine Wohnung und vor allem sein Leben ging sie einen feuchten Kehricht an. Martin merkte, wie ihm die schweißnassen Haare an der Stirn klebten und blickte über dem Waschbecken in ein erschreckend elendes Abbild. Martin starrte sich an. Das bin nicht ich, dachte er. Seine Spiegelversion sah aus wie ein Sozialfall. Zornig strich er sich mit seiner Hand das Hemd vorne in der Jeans glatt. Der elektrische Schmerz durchzuckte sofort wieder seinen Ellbogen. Fahrig tastete er seine Arme entlang, unklar, ob er den Schmerz lindern wollte oder, um unsichtbare Ärmel hochzukrempeln. Ein schneller Griff durch die Haare. Dann riss er die Badezimmertüre auf. So, Zeit zum Aufstehen, kleines Monster. Sein Blutdruck schaukelte sich hoch auf vulkanische Werte. Der aufgestaute Zorn der letzten Jahre zeigte erstaunlichen Brennwert. Martin verließ das Badezimmer und fegte mit all seinem Unmut ins Wohnzimmer. Die abgestandene Luft im Flur geriet in Bewegung und erzeugte Verwirbelungen einer aufziehenden Schlechtwetterfront. Mit einem richtigen Donnerwetter würde er das Mädchen unnachgiebig aus seinen vier Wänden pusten…

      In vollem Lauf krallte er sich in letzter Sekunde im Türstock fest und bremste so abrupt ab, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte. Ihm blieb der Mund offen stehen. Was er da sah, passte nicht in das Feindbild, das er sich für den Couchbereich so farbenprächtig ausgemalt hatte.

      Monsterlizzy stand bereits mit gepacktem Rucksack vor ihm und lächelte ihn mädchenhaft an.

      „Hör mal“, sagte sie zögerlich und tippelte von einem Fuß auf den anderen.

      „Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, dass man jemandem Unterschlupf und Essen gibt. Und genau das hast du einfach so getan, ohne groß Fragen zu stellen.“

      Sie pinselte ihr Kompliment mit geöffneten Händen in die Luft. Ihr Blick war klar und nixenhaft grün.

      „Danke, Martin.“

      Für einen Moment stand sie einfach nur da, bis ihre sanfte Stimme verklungen war. Als könnte sie im Stockwerk über ihnen jemanden um Hilfe bitten, blickte sie kurz zur Zimmerdecke und seufzte tief. Unerwartet plötzlich nahm sie Anlauf und fiel in der nächsten Sekunde Martin filmreif um den Hals. Fast schüchtern tippten ihre Lippen ein Dankesküsschen auf seine Wange. Dicht vor seinem Gesicht strahlte sie ihn mit Christkindaugen an. Martin konnte ihr Vanilleshampoo riechen und ihre pfirsichweiche Haut an seiner Wange spüren. Komplett überrumpelt blickte er sie nur stumm an. Der Zorn war sofort aus allen Poren verpufft. Meerjungfräuliche Jugendlichkeit wirkt eben entwaffnend.

      Der Pfirsich-Vanille-Engel wandte sich wieder von ihm ab und ein wippender brauner Pferdeschwanz schwang sich wegwärts durch den Flur. In einer grazilen Halbdrehung warf sie ihm noch locker schwungvoll über die Schulter einen Abschiedsgruß zu. Darin eingewickelt platzierte sie elegant eine glasklare Ansage „Also, wie vereinbart, um siebzehn Uhr im Café ZEITLOS. Danke nochmal, bis später!“

      Den Mantel der Schüchternheit von vorhin hatte sie irgendwie im Wohnzimmer liegen lassen und wie auf einen Fingerschnipp hin wieder gegen ihre feste Entschlossenheit eingetauscht. Sie war eine Verwandlungskünstlerin und Martin fiel voll drauf rein.

      „Abgemacht?“

      Die Frage blieb an der Stelle zurück, an der sie soeben noch gestanden hatte. Sie stand unbeantwortet im Raum wie ein schlecht beschriftetes Paket, dessen zukünftiger Besitzer noch ungeklärt ist. Er sah ihren Rücken im Treppenhaus verschwinden, Fußtritte, ein hallendes „Also abgemacht!“ und wumms fiel unten die Haustüre ins Schloss. Für Lizzy schien seine nicht ausgesprochene Zusage mit dem Knall bestätigt. Martin blieb wie angewurzelt auf dem Fußabstreifer zurück und schüttelte kurz den Kopf, um die Erscheinung von eben loszuwerden. Fehlsteuerung im Kopf. Scheiß Alkohol. Was war denn das für ein schlechter Kinofilm? Ungläubig zog er die Brauen zusammen und war sich nicht sicher, ob er den Kommentar „Bin ich wach oder träume ich“ sagte oder nur dachte. In der Wohnung war es plötzlich seltsam still. Die Zeiger der Wohnzimmeruhr schoben sich wie immer um die Kurve, die Kissen seines vertrauten Lieblingssofas glotzten Martin hirnlos an. Leer stand er da. Nur das fauchende Geräusch der Luft, die in seinem Brustkorb zirkulierte, gab ihm die Gewissheit, dass zumindest auf körperlicher Ebene noch alles funktionierte. Erst nach einer Weile gelang es ihm, sich aus seiner säulenhaften Versteinerung zu lösen. Mit seiner Hand hatte er sich unbewusst die ganze Zeit über oben am Türstock festgeklammert. Normalerweise fuhr man so in öffentlichen Verkehrsmitteln, deren Fahrer ungeachtet der armen Insassen meinten, über holprigen Untergrund rasen zu müssen. Genauso durchgeschüttelt fühlte er sich. Ihm war leicht schwindlig von der Geschwindigkeit der Ereignisse und von deren Ruppigkeit, die bewirkte, dass er im Moment dem Boden unter seinen Füßen nicht ganz vertraute. Das Beste wäre wohl, diese eigenartige Lizzy nie mehr wiederzusehen. Noch während er diesen Gedanken fast trotzig auf die Reise schickte, beschlich ihn das seltsame Gefühl, hörbare Stille wandere durch die Räume. Die Erleichterung, wieder für sich zu sein, war entgegen seiner gestrigen Erwartung ausgeblieben. Etwas fehlte. Als wäre die Luft zwischen den Einrichtungsgegenständen nicht an ihrem vorgesehenen Platz. Als hätte Lizzy zu viel davon aufgewirbelt und mitgenommen, als sie die Wohnung verlassen hatte. Als müsste sie zur Wiederherstellung des Gleichgewichts in irgendeiner Form zurückgebracht werden. Langsam beruhigte er sich und wagte ein paar wackelige Schritte in den Flur. Erneut folgte er seinem Unterbewusstsein. Diesmal ins Bad, wo kurz später das Wasser der Dusche rauschte. Auch wenn noch der komplette Samstag dazwischen lag, man ging schließlich nicht ungewaschen zu einer Verabredung.

      Samstag,