„Und wie geht’s dir? Ich hätte nie gedacht, dass du dir das in deinem Alter noch antust. Toll machst du das. So viel frischer Wind um die Nase…“
Tante Astrid forschte in ihren Hirnwindungen rückblickend nach einer Begebenheit oder einem Zeitpunkt, bei dem sie ihrer Schwester hätte erzählt haben können, dass sie auf Kur an der Ostsee war. Eigentlich wusste keiner davon. Der Plan war gewesen, sich heimlich für eine Weile aus dem Staub zu machen. So eine Art Auszeit. Sabbatical of daily activities. Aber ihr Vorhaben schien nicht so richtig zu funktionieren. Ihr kam es beinahe so vor, als ob in letzter Zeit eher noch mehr Menschen anriefen als sonst. Unglaublich! Eine kräftige Böe riss an ihrem Mobiltelefon.
„Frischer Wind kann man wohl sagen“, antwortete Tante Astrid und zurrte die Jacke fester.
„Aber alles gut. Mach dir keine Sorgen. Hier ist alles straff durchorganisiert. Es geht vorwärts. Übrigens so ein Aufenthalt auf Zeit wirkt wie ein wahrer Jungbrunnen…“.
Ein wenig verwundert runzelte Margit die Stirn und ging in die Küche. Das Mobiltelefon klemmte noch an ihrem Ohr. Keiner sprach. Astrids Äußerungen sickerten nur tröpfchenweise in tiefere Schichten, dampften ein zu einem Filtrat der seelischen Erleichterung. Ihre Tochter Lizzy lernte anscheinend fleißig und wirkte auch noch wie ein Jungbrunnen. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte auch nur jemand sagen, der frei war von Kontaktallergien mit Pubertierenden. Der die täglichen Schürfwunden nicht kannte, die man sich an der ruppigen Schale einer achtzehnjährigen Tochter holen konnte. Astrid schnaubte am anderen Ende der Leitung ungeduldig. Ohne an der fernen Ostsee eine Antwort abzuwarten, schickte die Kururlauberin kurzer Hand in das Telefon ein enthusiastisches „Dir auch alles Gute. Und Schnussibussi zurück!“
Und nach zwei Schmatzgeräuschen, mit denen normalerweise Katzenbesitzer ihre Lieblinge anlockten, war die Leitung still. Schnussibussi. Typisch Astrid.
Samstag, 21. April. Martins nächster Morgen
Martin erwachte aus einem wenig erholsamen alkoholunruhigen Schlaf und befühlte seine pochenden und erhitzten Schläfen. Fast ebenso schmerzhaft schoss ihm ein Gedanke an den gestrigen Abend durch den Kopf und er hoffte augenblicklich, dass er alles nur geträumt hatte. Er war jedoch Realist genug, um zu erahnen, dass das unheilvolle, flaue Gefühl in seinem Magen nicht ein Überbleibsel der letzten Traumphase war, sondern nackten Tatsachen entsprach.
Mit bleiernen Gliedern quälte er sich aus seinem Bett und wusste nicht, ob die Kraftlosigkeit vom Schlafmangel und übermäßigem Alkoholkonsum herrührte oder eher psychisch bedingt war in Erwartung auf den Schlamassel, den er vermutlich im Wohnzimmer vorfinden würde.
Im Moment fühlte er sich jedenfalls deutlich älter als vierzig. Das ganze Ausmaß der Demontage seiner kleinen strukturierten Welt erkannte er sofort, als er das Wohnzimmer erreichte.
Aus dem akkuraten Sofa war mit der praktischen Orientierung weiblicher Handgriffe eine funktionsfähige Schlaflandschaft entstanden. Die Rückenkissen dienten als Verbreiterung der Liegefläche und weiter unten als Fußstütze. Auf dem Couchtisch entdeckte er eine kleine Wasserpfütze. Sein Flokati Teppich war in die Rolle eines wärmenden Unterbetts geschlüpft und seine Wolldecke erwies sich als idealer Schlafsack. Darin eingehüllt, zumindest teilweise, lag Lizzy, wie er seit gestern wusste. Wirklich erst seit gestern? Musste man sich nicht eigentlich mindestens einige Jahre kennen, um sich morgens in solch einer Situation vorzufinden? Wann genau sie die Segel gestrichen hatten, um ins Bett zu gehen, entzog sich seinem Gedächtnis. Wahrscheinlich war er irgendwann bei einem Gang zur Toilette beim Schlafzimmer abgebogen und ins Bett gefallen. Und die junge Dame hatte sich im Wohnzimmer gemütlich eingerichtet. Lizzy. Einzelheiten sickerten ins Bewusstsein.
Lizzy hieß in Wirklichkeit Marie-Elise, aber der Name war ihr eindeutig zu lang und zu „bindestrichaufgedunsen“, wie Lizzy knapp mit einer abwertenden Handbewegung ungefähr bei der Hälfte der zweiten Flasche Wein kommentiert hatte.
Mit einem leisen Seufzer bewegte sich das Mädchen und deckte sich dabei noch mehr auf. Sie trug nur einen Slip und ein dünnes T-Shirt, welches die schmalen Umrisse ihres Körpers eher noch zarter wirken ließ als sie ohnehin schon waren.
Hoffentlich wachte sie nicht gerade jetzt auf! Sie würde denken, er wäre ein Spanner. Martin schlich auf leisen Sohlen zurück ins Badezimmer. Er wollte in jedem Fall vermeiden, ihr so wie sie im Moment aussah, seinerseits in Shorts und Unterhemd zu begegnen.
Nach jahrelanger Abstinenz hatte er nicht genügend Vertrauen in das elementare Denkschema seiner Körpermitte, das vielleicht einer anderen Logik folgte als sein Verstand. Vor allem nicht mit dem anregenden Restalkohol im Blut. Und dieses Mädchen gehörte klar in die Kategorie Tochter oder Schwester eingestuft.
Der Blick in den Badspiegel erhellte weitere Areale seines Erinnerungsvermögens. Sie hatten ganz am Ende ihrer teils hitzigen, teils nachdenklichen Diskussion eine Abmachung getroffen und diese per Handschlag besiegelt. Jeder hatte auf ein ihm wichtiges „Heiligtum“ geschworen, alles so durchzuziehen, wie besprochen. Er hatte auf den Tod seiner geliebten Tante Berta geschworen, der er noch vor einem halben Jahr am Krankenbett versprochen hatte, seinem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen.
Lissy hatte etwas weniger pietätvoll auf ihren ebenfalls bereits verstorbenen Goldhamster Puffi mit entsprechend ernster Miene und erhobener Rechten ihren Eid abgelegt.
Danach hatten sie sich wie so viele Male zuvor erneut zugeprostet und verschwörerisch versonnen in ihre Gläser geblickt.
Waren solche Verträge nicht eigentlich nichtig, da sie unter erheblichem Weingenuss und damit unter nicht zurechnungsfähigen Partnern geschlossen worden waren? Und an den Inhalt erinnerte er sich, wenn er ehrlich war, nur bruchstückhaft.
Jäh schreckte ihn ein weiterer Gedanke.
Er klappte den Deckel der Toilette hoch und setzte sich auf das Oval. Die Short hing leblos an den Knöcheln.
Unwillkürlich stützte er die Ellbogen auf beide Knie und vergrub sein Gesicht in seinen Handflächen. Ein flaues Gefühl schlich sich in seinen Magen. Er hatte gestern eine Frau mit nach Hause gebracht. Eigentlich eher noch ein halbes Kind. Was mochten die Nachbarn denken?
Nüchtern betrachtet- wenn im Moment überhaupt möglich - musste die ganze Situation für Außenstehende folgendermaßen aussehen.
Er, der frustrierte Mitvierziger, hatte, weil unfähig, eine alltagstaugliche Beziehung zu einer gleichaltrigen erwachsenen Frau aufzubauen, eine Minderjährige in sein Haus gelockt (vermutlich übers Internet kennengelernt). Somit sei er seiner eigenen sicherlich seit der Kindheit aufgestauten inneren perversen Neigung zu jungen Mädchen zum Opfer gefallen, indem er eine Nacht mit ihm verbracht hatte. Wer weiß wohin das noch führen würde. Wildeste Gedankenkonstrukte der Nachbarn könnten weitere Rückschlüsse auf seine verkorkste Persönlichkeit hervorbringen und sein Ruf wäre dem Untergang geweiht. Vor seinem geistigen Auge sah er schon ihre Gesichter, wenn man sich im Treppenhaus oder auf der Straße begegnete. Ob man nicht lieber die nächsten Wochen die Tochter zur Schule und zum Gitarrenunterricht bringen und auch wiederholen solle?
Oh Gott, wie peinlich. War er doch seit Jahren darauf ausgerichtet, nach außen so politisch korrekt zu handeln wie irgend möglich. Sein persönliches Gütesiegel war Unauffälligkeit. Wer keine Angriffsfläche bot, wurde auch nicht angegriffen. Und nicht von anderen angegangen zu werden, verschaffte ihm den steten Vorsprung an potentieller Ruhestellung.
Ihm reichte schon der Trubel, den Kunden und Kollegen an manchen Tagen in der Bank verbreiten konnten. Hastiges Tippen einer Mail, hellere und dunkel klingende Stimmen im Flur, die jedes dringende Probleme