heute wirst du gehenbleiben. Gertraud Löffler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gertraud Löffler
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783749794089
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Paar wie sie selbst. Martin konnte nicht umhin, die beiden zu mustern. Ein Blondchen mit flehenden Augen, die permanent auf den älteren Mann gerichtet waren, als wollte sie ihn blauäugig hypnotisieren. Ihr Erscheinungsbild wirkte hilflos naiv. Jede Wette, dass es sich um das Kindermädchen der Familie handelte, die ohne Ausbildung und Schulabschluss in eine lukrative Tätigkeit in einem gut betuchten Haushalt gerutscht war, schlussfolgerte Martin. Lieb, aber doof. Martin und Lizzy saßen erst einmal schweigend auf ihren Plätzen. Keiner wusste so genau, was man sprechen könnte. Zwei Fremde bei Tee und Kakao. Am Brunnen war die Unterhaltung leichter gewesen. Ungezwungen, weil zufällig. Das hier war geplant. Nebenan aufgeregte Diskussion. Vielleicht um Gehalt oder um ihre aufgeflogene Affäre. Martin spitzte die Ohren. Überall tickte und murmelte es. Worüber es genau ging, konnte man auf die Schnelle akustisch nicht fassen und es tat auch des Weiteren nichts zur Sache. Ihm gegenüber saß ein dringenderes Problem.

      „Also, wo brennt´s?“, fragte Martin endlich. Auf dem Weg hierher waren sie schweigend nebeneinander gelaufen, wie Unbekannte, die sie letztendlich auch waren, und seine Neugierde auf Lizzys Geschichte war gewachsen. Lizzy saß ihm gegenüber und rührte zufrieden in der cremigen braunen Masse in ihrer Tasse. Kakao war Medizin, das wusste Martin, und er ölte vielleicht Lizzys Stimmbänder. Vor ihm stand ein Tee mit Schuss. Gut gegen Viren.

      „Ich weiß gar nicht, warum ich dir alles erzählen soll“, begann sie und wischte sich mit Daumen und Zeigefinger einen winzigen Kakaorand aus den Mundwinkeln.

      „Es ist schon merkwürdig. Wenn man achtzehn ist, erwarten alle, dass man erwachsen und vernünftig ist. Ich fühle mich aber nicht so.“

      Sie drehte die noch verpackte Kakaobohne in Schokomantel zwischen den Fingern. Sie hatte als Dekoration auf der Untertasse gelegen. Das Plastik knisterte.

      „Daran sind eindeutig meine Eltern schuld. Zu Hause sollte ich immer das Superkind sein. Eines zum Vorzeigen in der Familie und bei Freunden, eines, mit dem man ´ganz vorne mit dabei war´, wie sie immer sagten. Schon als ich klein war, band mir meine Mutter hässliche Schleifen in die Haare, beschloss, dass meine Lieblingsfarben dunkelblau und rosa waren und kaufte mir alles, einfach alles in diesen wie sie sagte edlen Farbtönen. Auch heute noch heißt es: geh aufrechter, lache nicht so laut, und wenn du studieren gehst, kaufen wir dir ein Apartment, damit du nicht mit irgendwelchem Gesindel wohnen musst. Ich will aber nicht, dass ständig jemand über mich entscheidet. Da kriegt man ja keine Luft!“

      Lizzy blickte von der Kaffeebohne auf und sah Martin direkt an. Ihre grünen Augen hatten einen matten Schimmer. Ihr Blick fing seine Aufmerksamkeit ein. Als könnte ihre innere Energie ihn bündeln, zog sich Martins Unruhe, die ihn seit heute Morgen quälte, auf einen konzentrierten Punkt in seiner Mitte zusammen und gab ihm ein eigenartig intensives Gefühl von Präsenz. Auch Lizzy war mit allen Sinnen im Gespräch. Keiner von beiden nahm wahr, dass der Disput am Nebentisch zwischenzeitlich etwas lauter geworden war. Lizzy erzählte weiter.

      „Sie legten fest, was ich anzuziehen hatte, um immer gut auszusehen. Es gab klare Anweisung, was ich essen durfte, um gesund zu sein und schlank zu bleiben, und sie bestimmten, wie ich meine Freizeit verbringen sollte.“

      Ihre Stimme nahm an Lautstärke zu, vielleicht auch aufgrund des anschwellenden Streits des Pärchens neben ihnen.

      „Sie waren die großen Beschützer und Bestimmer.“

      Lizzy vollbrachte wieder eine dieser ausladenden Bewegungen, die Martin noch vom Park her an ihr kannte. Aus Lizzy sprudelten die Sätze wie aus einem aufgedrehten Wasserhahn.

      „Montags Klavierunterricht, dienstags Englischgruppe, mittwochs tanzen, donnerstags lernen, freitags- ach, was weiß ich. Immer stand irgendwas auf dem Plan und hatte angeblich für später einen hohen Nutzen. Ist das nicht krank?“

      Sie drehte die Augen fragend zur Decke, wo der Ventilator aus Havanna seine braunen Kreise zog. Beide offenen Handflächen lagen erwartungsvoll auf dem Tisch. Wollten vielleicht eine herabfallende Antwort auf die große Frage nach dem Warum, die hinter all den Ausführungen steckte. In Martin erweckte diese Geste für einen Moment die Assoziation, Lizzy sei ein hübsch gemaltes Bild in einem starren dunklen Holzrahmen. Schnell blinzelte er es wieder weg. Nicht abschweifen, logisch denken. Gaben Eltern mit festen Begrenzungen Schutz oder Gefängnis? Ein Kind, ein verletzliches Wesen, braucht doch äußeren Halt, oder? Grenzen. Brauchte nicht jeder Grenzen beziehungsweise hatte man sie nicht unweigerlich? Er spürte seine eigene körperliche Wärme und den leicht feuchten Film auf seiner Haut. Jeder steckt doch in sich selbst fest und kann nicht aus. Jeder auf seine Weise. Eltern in ihrem Elternding. Teenager in ihrer Entwicklungsphase, Erwachsene in ihrem Erwachsenending.

      Martin merkte, wie er zu schwitzen begann. Kam die Hitze von seinem Tee- oder doch Fieber? Wie sagt man bei Säuglingen? Reizüberflutung. Das konnte auch der Grund sein für seine Symptome. Eingefleischte Gewohnheiten machten nicht gerade flexibel für das richtige Leben, das hier gerade vor ihm saß in Fleisch und Blut. Er konzentrierte sich wieder auf Lizzy, die gerade die häuslichen Reglementierungen weiter ausführte, vermutlich, weil weder havannische Weisheit von der Decke fiel noch Martin seine Sicht der Dinge preisgab.

      „Die ganze Kindheit verbringst du damit, optimiert zu werden für das Erwachsenenleben. Du wächst heran Zentimeter für Zentimeter. Am Anfang bist du noch knuffelig und knautschig, ein kleines Gummikind, und deine Eltern versuchen schon, dich in Form zu kneten. Ich sollte gut werden, nein besser oder die Beste! Dabei haben sie aber nicht bedacht, dass sich irgendwann aus dem kugeligen Lockenschopf mit Kindchenschema der Dickschädel eines Teenagers aushärtet.“

      Mit ihren Knöcheln klopfte sie ein paar Mal gegen ihre Stirn.

      „Der süße Puppenkopf ist einfach zu groß geworden! Und übrigens, liebe Eltern, er kann selber denken! Aber ständig wollen sie mich irgendwohin lenken, wollen die Fäden in der Hand haben. Ich bin doch keine Marionette!“

      Lizzy nahm einen Schluck und schaute mit traurigen Augen zu Martin. Die Schultern schienen ihren Kopf fast zu verschlucken, so weit waren sie hochgezogen. Als wollte sie in sich selbst verschwinden. Der Kuckuck aus der Schwarzwalduhr unterbrach das kurze Schweigen.

      Wie war eigentlich seine eigene Kindheit gewesen? Eigentlich war alles in Ordnung gewesen. Er war viel draußen im Freien herumgetollt, hatte Fußball gespielt, ja klar, und auch mal büffeln müssen für irgendeine Prüfung. Aber an die Kindertage zu denken, war nicht unangenehm. Es fühlte sich satt und weich an. Seine Eltern hatten ihn nie eingesperrt, zumindest nicht eingeschränkt. Und wenn er Trost gebraucht hatte, waren sie doch immer da gewesen, oder? Vor allem, nachts, wenn er sich wieder einmal nach einem Traum im Dunklen gefürchtet hatte, hatten sie sofort das Ganglicht angeknipst. Und er war wieder eingeschlafen. Mit einem lauten Klacken fiel die Türe des kleinen Holzkastens über ihnen zu. Der Vogel war wieder in der programmierten Versenkung verschwunden. Wieder blieb Martin eine Antwort schuldig.

      „Meine Eltern sind echte Karrieretypen, verstehst du? Und ich soll genauso werden.“

      Lizzy tippte energisch gegen die Tischplatte.

      „Das ist der Plan.“

      Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Unterarme.

      „Ich werde da aber nicht mitmachen.“

      Die Traurigkeit von vorhin hatte sich verflüchtigt und einem entschlossenen Gesichtsausdruck Platz gemacht. Ihre grünen Augen bekamen wieder das wilde smaragdgrüne Funkeln.

      „Weißt du, ich habe alles so satt. Das Gefühl, dass jeder Winkel meines Lebens ausgeleuchtet wird. Das Trimmen auf Produktivität!

      Ich glaube, ich wohne daheim in einem Geburtshaus für die ganz große Kohle. Jedes einzelne Zimmer bringt auf seine Weise Euros zur Welt, pflegt sie oder dient ihrer Vermehrung. In der Luxusküche meiner Mutter werden Häppchen zubereitet für Gäste in superteuren Manageranzügen. Diese Herren konsumieren dann gedankenlos Kaviar, während sie dann im Wohnzimmer über Gewinnmargen und Renditen diskutieren.“

      Teile ihrer Schilderungen hätten in einer Fachzeitschrift abgedruckt werden können. Ungewöhnlich exakt skizziert und ausformuliert. Wie auch schon am Brunnen. Ihre Sprechweise war so untypisch