Freitag, 20. April. Georg und Rita
Der Konservativste seines Freundeskreises war er nicht und bei Gott auch nicht der Bruder vom Papst, aber gelegentlich entsetzte ihn die Freizügigkeit der modernen Zeit. Es rief körperliches Unwohlsein in ihm hervor, neben einem Lehrer zu sitzen, der anscheinend heimlich seine Schülerin traf. So geheimnisvoll, wie beide am Nebentisch taten, mussten sie aus einer anderen Stadt extra angereist sein, um die Liebschaft zwischen Staatsdiener und Schutzbefohlener, was in diesem Falle sogar eine Straftat darstellte, zu vertuschen. Offensichtlich ihr Englischlehrer oder der Chorleiter. „Dienstag Englisch“ hatte er aufschnappen können und „Solostimme im Chor.“
Vermutlich gab er ihr als Musiklehrer den Vortritt bei der Besetzung für die nächste Aufführung. Nicht aufgrund natürlicher Begabung, sondern aus Qualitätsgründen in anderen Bereichen. Wenn die junge Dame seine Tochter wäre, würde er dem Treiben ein Ende setzen. Hoffentlich würde seine eigene Tochter Rita nie auf die schiefe Bahn geraten, den falschen Mann kennenlernen oder bei dem vielen Stress mit der Doktorarbeit gesundheitlich unter die Räder kommen. Ihr stand eine großartige Zukunft bevor. Summa cum laude in jeglicher Hinsicht. Später ein hochdotierter Posten inmitten vieler Entscheidungsträger dieser Nation.
Wenn es ihm in einem Jahrzehnt vergönnt sein sollte, auch noch ein Enkelkind auf Erden begrüßen zu dürfen, wäre es ihm eine Ehre, das Attribut Opa an Georg anzuhängen und ein dringendes Anliegen, dass dieser mit Vornamen ebenso hieß, wie er selbst. Selbstverständlich dürfte der Sprössling auch niemals die Eigenschaften eines „enfant terrible“ an den Tag legen und es wäre erstrebenswert, wenn er in seiner Erziehung einen gewissen Schliff erhielt, der ihm ein später schwereloses Gleiten auf gehobenem Parkett ermöglichte. Blühkraft und Stolz lag in der Erfüllung des Generationenvertrages! Die Bedürfnisse und die Entwicklung seiner Tochter Rita hatten immer oberste Priorität genossen. Trotz seiner Scheidung hatte er immer größten Wert daraufgelegt, seine Tochter alle vierzehn Tage am Wochenende zu betreuen, ihren Wissensdurst zu stillen und während der Woche die Begabtenförderung aufrecht zu halten, die ihr seit Jahren von öffentlicher Hand zuteilwurde. Rita war ein außergewöhnliches Kind gewesen. Mit zwei Jahren konnte sie sprechen, mit fünf Klavier spielen und mit zwölf Infinitesimalrechnungen lösen. Die Förderungen erhielt sie, seit sie mit siebzehn bei einer Ausschreibung des Wirtschaftsrates für Biotechnologien eine Forschungsarbeit angefertigt hatte über „Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Verbundstoffen aus Algen zur Supplementierung von Kunststoff in der industriellen Verarbeitung.“
Gerne traf er sich mit Rita. Vor allem hier im Café ZEITLOS. Seine Tochter und er diskutierten häufig leidenschaftlich und lebhaft. Den Austausch von Standpunkten und deren Verteidigung hielt Georg in der Persönlichkeitsentwicklung für essentiell. Meist über Politik oder andere Sachthemen, die es zu erörtern galt. Störend war heute nur dieses merkwürdige Schüler-Lehrer-Paar. Zuviel lautstarke Disharmonie. Zwischen den beiden schien sich ein Streit zu entfachen. Die junge Dame wirkte in höchstem Maße aufgebracht.
„Papa, ich möchte nach meiner Doktorarbeit ein halbes Jahr ins Ausland. Ich brauche frische Luft“, unterbrach ihn Rita.
Georg war so in Gedanken versunken gewesen, dass er überzeugt war, der Satz sei vom Nebentisch herübergedrungen. Noch wunderte er sich über das Wörtchen Papa. Doch kein Pärchen? Aber die beschwichtigende Hand auf seinem Unterarm und der durchdringende Blick seiner Tochter holten ihn zurück in die Realität. Wie Ausland nach der Doktorarbeit? Ein ganzes halbes Jahr? Blässe malte sich unter das Grau des Bartes. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber Rita sprach voller Begeisterung weiter. Es folgten Ausschmückungen der Zukunftspläne und es fielen Worte in einer nordischen Sprache. Es klang, als spräche eine Frau ihre Muttersprache und Georg wusste, dass sie es ernst meinte. Klammheimlich musste sie einen Kurs belegt haben oder es sich gar autodidaktisch angeeignet haben. Seine Tochter, dieses Sprachtalent! Alles, was sie anpackte, brachte sie zu einer gewissen Stufe der Perfektion.
„Schweden“, murmelte er kleinlaut. „Du hast bestimmt schon alles geplant.“
Die Hand auf seinem Arm, die noch vor wenigen Jahren große bunte Steine aufeinandergeschichtet und ihm die Klötzchen in die Erwachsenenhand gelegt hatte, wenn das Bauwerk ihre eigene Größe überragte, faltete sich und wurde mit den Zeigefingern an den Mund gelegt.
„Ja, Papa. Ich fahre nach Schweden. Am Montag geht mein Flieger.“
Freitag, 20. April. Weg von der Straße
Wie groß das Loch in ihrem Magen selbst nach einem ordentlichen Stück Kuchen sein musste, hatte man unschwer an dem gierigen Glanz ihrer Augen erkennen können, als sie die letzten Krümel mit der Gabel zusammen geschoben und zu einer undefinierbaren Breimasse zerdrückt hatte, um zu verbinden, was noch lose übrig da lag. Der Teller hatte beinahe gespült ausgesehen. Vor ungefähr einer Stunde hatten sie das Café ZEITLOS verlassen und Martin hatte es nicht übers Herz gebracht, sie am Parkeingang abzuladen wie eine fehlbestellte Getränkelieferung. Besser gesagt, er hatte einfach nicht gewusst, was er sagen sollte, um sie auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden. Sie hätte sich ohnehin nicht abschütteln lassen, anhänglich wie sie sich verhielt. Wenn er kurz stehengeblieben war, hatte auch Lizzy neben ihm angehalten. War er weitergelaufen, war sie ihm wieder gefolgt. Er, Konrad Lorenz und sie, die Gans, hatten den Weg Meter für Meter fortgesetzt. Vermutlich hätte er sie anschreien müssen, damit sie die Richtung ändert, aber so ein Verhalten widerstrebte Martin derart, dass er diesen Gedanken bereits im Stadium der abstrakten Idee verwarf. Die Gans saß also jetzt an seinem Küchentisch, betrachtete ehrfürchtig eine belegte Semmel in ihren Händen und biss gierig hinein. Dabei schloss sie die Augen und ihre Kiefer begannen langsam und genussvoll zu mahlen. Ein ungewohntes Bild in seiner sonst eher unbelebten Küche. Zumal er hier selbst noch vor ein paar Stunden alleine gesessen und gefrühstückt hatte, während draußen das Räderwerk der rastlosen Berufswelt weiterratterte. Lizzy setzte zum nächsten großen Bissen an. Anscheinend war das Stück Kuchen auf dem Weg zu seiner Wohnung bereits restlos verstoffwechselt worden. Weil das Brötchen ein wenig trocken war, lösten sich ein paar einzelne Krümel und kullerten über ihren Ellbogen. Geräuschlos fielen sie auf den staubfreien Boden.
Martins Argusaugen, die gewohnt waren, über den einwandfreien hygienischen Zustand seiner Räumlichkeiten zu wachen, war dies natürlich nicht entgangen. Es ärgerte ihn, dass hier so mit seinen Sachen umgegangen wurde. Immerhin saß sie in seiner Wohnung, in seiner Küche, an seinem Esstisch und er fand es in hohem Maße ungewohnt, all dies mit jemandem zu teilen, wenn auch nur vorübergehend. Nur wegen eines Teenagers wollte er seine Wohnung auf keinen Fall zu einem Saustall verkommen lassen. Neben all dem Drill zu Hause hätten sie der jungen Dame zur Abwechslung auch ein paar Manieren beibringen können, bevor man sie auf einen gepflegten und sauberen Haushalt loslässt.
„Kannst du bitte ein bisschen mehr aufpassen und weniger krümeln?“, versuchte er vorsichtige Kritik.
Teenager konnte man mit Anregungen bestimmt besser lenken als mit strikten Verboten. Soviel hatte er bei Lizzys Ausführungen verstanden. Bevormundung mochte sie nicht.
„Ich habe erst gestern alles gesaugt und frisch gewischt.“
Das musste ihr doch einleuchten.
Aber das Mädchen vor ihm verhielt sich unbeeindruckt. Sie ließ in aller Seelenruhe ihren Blick durch seine Küche wandern, blieb immer wieder für einige Sekunden an einem Gegenstand haften und nur die winzigen Muskelbewegungen unter der feinen Haut ihrer Stirn verrieten, dass sie dabei intensiv nachdachte. Beim nächsten Bissen stürzte auch noch ein winziges Stückchen Tomate ab.
„Ups“, gab Lizzy von sich und hielt kurz ihre schmale Hand vor ihren Mund, eher weniger, um weitere Abstürze zu vermeiden, als vielmehr um ein amüsiertes Grinsen zu überdecken.
„Musst du hier so einen Dreck machen?“
Martin reagierte nun schon etwas schroffer. Die Teenagerweichspültaktik griff keineswegs. Er konnte nicht fassen, dass er als Hausherr derart übergangen wurde. Keinerlei