Links von ihm stand eine Gruppe gut gekleideter Herren beieinander. Es wurde gelacht, Gläser klirrten, dann tauchte eine blonde Frau auf. Shenmi Stevenson. Lächelnd, gut aussehend, alle überstrahlend, mit unzweifelhaft asiatischen Gesichtszügen. Sie trug ein fußlanges goldenes Kleid, das wie eine zweite Haut um ihren Körper floss. Es schien aus unzähligen Goldpailletten zu bestehen. Dass sie sich in diesem Kleid überhaupt bewegen konnte, erstaunte Mortimer. Er fühlte sich bei ihrem Anblick an eine Meerjungfrau erinnert. In ihren Armen trug sie einen kleinen weißen Hund. Das Tier hatte spitze Ohren und stechende Augen. Mortimer war es sofort unsympathisch.
Als seine neue Chefin ihn sah, steuerte sie auf ihn zu. Die Männer folgten ihr wie ein Schwarm Clownsfische.
»Morti«, rief sie. »Wie schön, dich zu sehen. Ich hatte schon Sorge, du würdest dich verspäten.« Küsschen links, Küsschen rechts. Ihr Parfüm vernebelte seinen Verstand. Er senkte verlegen den Kopf und deutete eine Verbeugung an. »Ich danke Ihnen, Ms Stevenson.«
Angesichts ihrer überwältigenden Persönlichkeit fühlte er sich befangen. Mutter Chinesin, Vater Amerikaner. Ein geistiges Produkt der besten Schulen beider Länder, mit zwei enorm reichen Familien im Hintergrund. Shenmi Stevenson war eine der erfolgreichsten Unternehmerinnen der Welt. Eine Frau, die schon in ihrer Jugend erreicht hatte, wovon andere ihr ganzes Leben träumten. Als Gründerin einer Internetsuchmaschine mit integrierter Social-Media-Plattform war sie bereits vor ihrem dreißigsten Lebensjahr Milliardärin gewesen. Mit ihrem Spürsinn für gute Investitionen hatte sie einen Hersteller von Elektroautos, eine Firma für Weltraumraketen sowie etliche Fernsehsender übernommen. Ihr Ziel war die Besiedelung des Mondes, später des Mars, und das binnen der nächsten fünfzehn Jahre. Wenn man in ihrer Nähe stand, spürte man, dass nichts diese Frau aufhalten konnte.
»Mein Flieger hatte Verspätung«, entschuldigte sich Mortimer. »Ist normalerweise nicht meine Art, zu spät zu kommen.«
»Hauptsache, du bist bereit, unser Baby an den Start zu bringen«, sagte Shenmi lachend und kraulte den Hund zwischen den Ohren. »Du wirst begeistert sein, was wir daraus gemacht haben. Es wird dich überwältigen.«
Der Schwarm von Männern folgte jeder Bewegung mit hingebungsvoller Bewunderung. Wie Motten, die das Licht umschwirren, dachte Mortimer. Ob sich der eine oder andere vielleicht Chancen bei ihr ausrechnete? Schließlich war Shenmi noch unverheiratet.
»Um nichts in der Welt hätte ich das verpassen wollen«, sagte er. »Wobei es ja nicht mehr mein Baby ist. Es gehört jetzt Ihnen.«
Sie zwinkerte ihm mit ihren silbergrauen Augen zu, dann erhob sie ihre Stimme. »Herrschaften, bitte alle mal herhören. Wenn Sie sich jetzt auf Ihre Plätze begeben würden? Die Vorstellung beginnt in wenigen Minuten. Komm mit, Morti. Ich möchte, dass du vorne sitzt. Heute werden wir beide Geschichte schreiben.«
Geschichte, das klang fast zu schön, um wahr zu sein. Die Frau hatte wahrlich Großes mit seiner Firma vor.
Er beeilte sich, zu seinem Stuhl zu kommen. Shenmi trat nach vorne auf die Bühne. Ein goldenes Hundekörbchen stand dort, in das sie ihren Liebling setzte.
»Haben Sie alle einen Platz gefunden? Prima, dann kann es gleich losgehen. Andrew, verdunkelst du bitte den Saal?«
Die Beleuchtung wurde auf ein sanftes Maß gedimmt und es kehrte Ruhe ein. Je dunkler es unter der Kuppel wurde, umso intensiver leuchteten die Lichter Seattles. Mortimer kam sich vor wie auf einem Schiff, das bei sternklarer Nacht durch ein Meer aus leuchtendem Plankton fuhr.
Das gebogene Panoramafenster hinter Shenmi wurde erst matt, dann erstrahlte es in sanftem Licht. Clever, die Verglasung als Projektionswand zu benutzen. Das Firmenlogo von Stevenson-Enterprises wurde riesengroß an die Leuchtwand projiziert. Auf der Bühne war Shenmi vor dem heller werdenden Hintergrund nur als schwarzer Scherenschnitt zu sehen.
Musik setzte ein. Erst leise, dann nach und nach lauter werdend. Mortimer kannte das Stück. Also sprach Zarathustra von Richard Strauss.
Als die Streicher und die Pauken einsetzten, erstrahlte Shenmi im Licht eines Scheinwerfers wie eine goldene Statue. Eine Mensch gewordene Göttin. Etwas Überirdisches ging von ihr aus. Sie hob ihre Hand und die Musik verstummte.
»Ich habe einen Traum«, sagte sie, die Worte Martin Luther Kings benutzend, und ihre Stimme hallte von allen Seiten wider. Mortimer konnte kein Mikrofon erkennen, also ging er davon aus, dass es irgendwo in ihrem atemberaubenden Kleid vernäht sein musste.
»Ein Traum, der mir eines Tages ermöglichen wird, diese Erde zu verlassen und zu neuen Welten aufzubrechen. Ich möchte davonfliegen und meinen Fuß auf unberührten Boden setzen. Ich möchte dorthin gehen, wohin noch nie ein Mensch zuvor gegangen ist. Und ich möchte Sie dorthin mitnehmen.« Sie deutete nach oben.
Über ihren Köpfen waren die Aufnahmen zweier Himmelskörper zu erkennen. Die eine zeigte den Mond, die andere den Mars. Wie gewaltige außerirdische Artefakte hingen sie dort, ausgestaltet bis ins letzte Detail. Mortimer erkannte Krater und Gräben, Hügel und Berge, Wüsten, ja sogar Salzseen. Die Bilder waren von solcher Schärfe, dass man sich gut vorstellen konnte, tatsächlich eines Tages dort entlangzuspazieren.
»Wer mich kennt, weiß, dass ich keine leeren Versprechungen mache«, sagte Shenmi und lenkte die Aufmerksamkeit zurück auf sich. »In etwas mehr als sechs Monaten wird eine bemannte Raummission in Richtung Mond starten, um dort feierlich unser erstes Luna-Hotel zu eröffnen, dessen Grundsteinlegung vor einem Jahr erfolgte. Die Baumaßnahmen wurden mit größtmöglicher Geheimhaltung durchgeführt. Die Erfahrungen, die wir auf unserem Trabanten sammeln, werden uns bei unserem nächsten und noch ehrgeizigeren Ziel nützlich sein: der Besiedelung des Mars. Bis dahin liegt noch viel Arbeit vor uns. Vor allem müssen wir gewaltige Summen von Geld für dieses Vorhaben aufbringen. Nur wenn es uns gelingt, die Kosten auf Sponsoren, Spender und private Investoren zu verteilen, werden wir erfolgreich sein. Unser Gewinn wird ein Gewinn für die gesamte Menschheit.«
Shenmi nahm den Beifall mit einem bescheidenen Lächeln zur Kenntnis. Diese Frau wusste, wie man sich in Szene setzte.
Ein paar Sekunden genoss sie den Beifall, dann hob sie ihre Hand. »Als Unternehmerin weiß ich natürlich, dass der Schlüssel zum Erfolg in einer gut durchdachten Werbekampagne liegt. Weltweite Aufmerksamkeit zu generieren, ist nicht eben einfach. Wir brauchen etwas, das die Menschen vor ihren Bildschirmen zu Hause fesselt. Das sie mitreißt und untrennbar mit unserem Namen verbunden ist. Wir brauchen eine Show. Die größte Show, die dieser Planet jemals gesehen hat.«
Das Publikum applaudierte lauter denn je. Einige der Zuhörer wollten aufspringen, wurden aber von ihren Hintermännern zurück auf ihre Plätze gezerrt. Ein kurzer Moment der Unruhe trat ein.
»Mein Plan ist es, ein Event ins Leben zu rufen, das sämtliche Nationen dieser Welt vereint«, übertönte Shenmi den Lärm. »Das Spiel soll spannend sein, aufregend und neu. Vor allem aber soll es uns die Schönheit unserer Erde vor Augen führen. Wenn wir den Mut aufbringen wollen, neue Welten zu erobern, dann wird uns dies nur mit dem Wissen gelingen, eines Tages nach Hause zurückkehren zu können. Auf einen Planeten, den wir wirklich lieben.« Lächelnd fuhr sie fort: »Liebe ist ein Kind der Freiheit, das hat mir mein Vater beigebracht und daran glaube ich fest. Und weil niemand die Welt mit so großen Augen betrachtet wie Kinder und Jugendliche, wird dieses Spiel nicht von Erwachsenen ausgetragen. Ich werde Ihnen gleich erklären, was mir vorschwebt. Vorher aber möchte ich meinen geschätzten Kollegen Mortimer Hansen auf die Bühne bitten. Morti, wärst du so gut?« Sie deutete herüber zu ihm. »Ich bin stolz, Ihnen den geistigen Vater vorstellen zu dürfen. Willkommen zum Vorentscheid der Worldchampionship von GlobalGames – dem Wettrennen rund um die Erde.«
Hinter Shenmi tauchte das Logo von Mortimers Firma auf. Ein Lichtspot schwenkte auf ihn herab und hüllte ihn in gleißende Helligkeit. Geblendet wie ein Maulwurf, stand er auf, unsicher und ein bisschen wackelig in den Knien. Er hatte nicht damit gerechnet, eine Rede halten zu müssen. Zum Glück besaß