World Runner (1). Die Jäger. Thomas Thiemeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Thiemeyer
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Детские приключения
Год издания: 0
isbn: 9783401808840
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Tauben flatterten hoch. Ein weiterer Zug donnerte über ihren Köpfen hinweg. Einer von tausend, die täglich über die Hohenzollernbrücke fuhren.

      Der kühle Wind strich über Tims glühendes Gesicht. Sein Entschluss stand fest. Er zog das Mundtuch hoch und die Kapuze über den Kopf. »Lass die Kamera laufen«, sagte er.

      »O Gott, du willst es wirklich tun. Du …«

      Tim ignorierte Farid und schaltete den Musikplayer ein. Er nickte grimmig. Zurzeit fuhr er voll auf die Achtziger ab. Bands wie The Police, Blondie, Depeche Mode und The Cure.

      Tim konnte nichts mit den aktuellen Charts anfangen. Die Musik früher war einfach besser.

      Er sprang vor bis zum dritten Stück und drückte auf Play. Walking on the Moon war genau der richtige Soundtrack für diesen Stunt.

      Er visierte sein Ziel, hakte seine Finger in den Stahlträger und schwang ein bisschen hin und her. Kräftetechnisch kein Problem. Er war ein geübter Kletterer, der aus dem Stand zwanzig Klimmzüge schaffte. Allerdings war das Metall mit einem Schmierfilm aus Fett, Staub und Taubenkot überzogen, was seine Aufgabe erschwerte. Vermutlich war Arrow deswegen abgerutscht. Tim durfte nicht zu schnell vorgehen. Erst mit den Fingern den Untergrund prüfen, dann hangeln. Meter für Meter.

      Allen Mut zusammennehmend, tat er den Schritt ins Nichts.

      Die Spannung in seinen Armen nahm zu. Seine Finger krallten sich wie Haken ins Metall. Hing er an beiden Händen, war das Gewicht gut verteilt. Rutschte er mit einer Hand ab, war da immer noch die zweite, die ihn vor dem Sturz bewahrte. Die schwierigsten Momente waren die, in denen er hinüber zum nächsten Querträger schwang. Nicht nur, weil sich der Körper dann in einer Schaukelbewegung befand, sondern, weil Tim für einen Moment loslassen und mit der anderen Hand hinübergreifen musste.

      Er dachte an Sakura und fragte sich, wie Farid nur so blind sein konnte. Man musste kein Spezialist sein, um zu erkennen, dass sie ein Mädchen war. Ihre Proportionen waren im Overall gut zu erkennen. Außerdem bildete Tim sich ein, zwischen Baseballmütze und Gesichtstuch eine rotbraune Locke entdeckt zu haben. Wie alle Runner tat Sakura alles, um anonym zu bleiben. Wichtig war ohnehin nur, dass sie hier gewesen war. Sie hatte an den Stahlträgern gehangen, genau an dieser Stelle.

      Der Gedanke spornte ihn an. Sakura war nicht irgendeine Spielerin, sie war eine Göttin. Mutig, sportlich und verdammt clever. Und sein Vorbild. Vermutlich stammte sie auch aus Köln oder aus der Umgebung. Wie hätte sie sonst den Claim hier anbringen können? Wenn es einen Runner gab, den Tim wirklich bewunderte, dann war sie es. Und er würde sie nicht enttäuschen. Den Blick fest auf die Box gerichtet, arbeitete er sich weiter voran.

      Der Song war fast zu Ende, als Tim an eine Stelle geriet, an der sein Handschuh abrutschte. Vielleicht war hier früher mal ein Nest gewesen, jedenfalls war der Kot frisch und schmierig. Tim hätte es erkennen müssen, wenn er seinen Blick weniger nach vorne und stattdessen mehr nach oben gerichtet hätte. Zum Glück hatte die andere Hand festen Halt.

      Angewidert von der Schmiere verzog er das Gesicht. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine Kehle war staubtrocken. Er räusperte sich und spuckte aus. Der Speichel flog und flog – der Abstand zum Wasser unter Tim schien dabei immer größer, die Schwärze des Flusses unter ihm immer bedrohlicher zu werden.

      Reiß dich zusammen, dachte er. Nur noch zwei Meter. Gleich hast du’s geschafft. Denk an Sakura.

      Er biss die Zähne zusammen, spannte seine Muskeln und atmete tief durch. Seitlich ausweichend, hangelte er um die schlüpfrige Stelle herum, suchte einen neuen Ankerpunkt und schwang vorwärts. Diesmal hatte er die richtige Entscheidung getroffen. Der Stahl war an dieser Stelle trocken und griffig.

      Ging doch. Noch zwei Querträger.

      Wie ein Roboter arbeitete er sich voran. Maß nehmen, vorwärtsschwingen, umgreifen. Perfekt.

      Tim kniff die Augen zusammen. »Nimm Zwei« lag jetzt direkt vor ihm. Das stetige Blinken schien sich mit seinem Herzschlag zu synchronisieren. Noch war die Zeit nicht abgelaufen, der Mechanismus war weiterhin aktiv. Tim schwang vor und zurück, während er die Box ins Visier nahm. Sie klemmte in der Kreuzung zwischen zwei Trägern. Vermutlich war sie dort mit Magneten befestigt. Er wollte sich hochziehen, um den Auslöser zu bedienen, als er ein Detail bemerkte, das ihm aus der Ferne verborgen geblieben war. Da war ein Schloss. Ein Zahlenschloss. Winzig zwar, aber wirkungsvoll. Es versperrte den Zugriff.

       Mist.

      Fassungslos blickte Tim auf die Viererkombination, die im Moment auf 0-0-0-0 stand. In der Beschreibung hatte nichts davon gestanden. Eine vierstellige Zahl. Eine unendlich große Menge an Kombinationen.

      Das war ein schlechter Scherz, oder? Wie sollte er jetzt auf die Schnelle die Kombination herausfinden?

      Entsetzt über die unerwartete Wendung, hätte er um ein Haar den kleinen Zettel übersehen, der rechts neben dem Zahlenschloss klemmte. Er zupfte ihn raus und las die Worte, die da standen.

      Was dachtest du, warum dieser Claim

      »Nimm Zwei« heißt? Nomen est omen. Jetzt

      hast du was zum Kombinieren. Good luck, S.

      Tim konnte es nicht fassen. »Nimm Zwei« bedeutete also, dass man das Rätsel erst im zweiten Durchlauf lösen konnte.

      Die Erkenntnis raubte Tim alle Energie. Während er noch auf das Zahlenschloss starrte, verlosch das Licht über seinem Kopf. Die Box hatte sich geschlossen. Das Spiel war aus, vorbei. Die ganze Mühe, der ganze Aufwand, umsonst. Und er hing hier wie eine überreife Kokosnuss.

      Hilfe suchend blickte er über seine Schulter zu Farid. Sein Freund filmte mit seinem Handy und beobachtete ihn dabei fragend. Er rief ihm etwas zu, das Tim über die Musik hinweg aber nicht verstehen konnte. Seine Arme fühlten sich an wie Gummi. Die Finger in den Handschuhen wurden rutschig vom Schweiß. Er musste zurück, und zwar schnell.

      Vorsichtig griff er um, machte eine Hundertachtzig-Grad-Drehung und wollte gerade nach vorne schwingen, als etwas aus einer dunklen Ecke neben der Box herausgeflattert kam und über seinen Arm kratzte. Tim erschrak dermaßen, dass er ins Leere griff.

      Eine Taube, schoss es ihm durch den Kopf, dann fiel er.

      Er wollte schreien, doch sein Hals war wie zugeschnürt. Wind brauste ihm um die Ohren. Dann klatschte er mit den Füßen voraus ins Wasser.

      Kalt war es, dunkel und hart wie ein Brett. Der Rhein presste ihm die Luft aus den Lungen. Das Letzte, was Tim sah, ehe die dunklen Fluten über seinem Kopf zusammenschlugen, war Farid, der immer noch das Handy auf ihn gerichtet hielt und alles filmte.

      2

      Die halbe Stunde nach dem Klingeln des Weckers war für Tim reine Routine. Duschen, Zähne putzen, frühstücken.

      Wie an jedem normalen Wochentag half er seiner kleinen Schwester Emily beim Anziehen und Packen und schickte sie zur Schule. Danach hatte er noch ein paar Minuten für sich. Sein Dad war zu diesem Zeitpunkt meistens schon fort. Er arbeitete in einem Architekturbüro und kam erst abends zurück. Auf dem Klo blätterte Tim noch in einem Comic, dann verließ er die Wohnung und radelte los.

      In der Metzgerei an der Ecke wurde das Mittagessen vorbereitet. Ein verführerischer Duft wehte auf die Straße und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Verglichen mit dem, was er täglich in der Schulkantine vorgesetzt bekam, war Meister Müllers Mittagstisch ein Drei-Sterne-Essen.

      Beim Bäcker nebenan traten sich die Leute auf die Füße. Viele wollten sich auf dem Weg zur Arbeit noch rasch etwas zu essen holen und verstopften mit ihren Autos Straße und Bürgersteig. Tim fuhr in halsbrecherischem Slalom an ihnen vorbei, trat ordentlich in die Pedale und schaffte es, die ganze Strecke in unter zehn Minuten zurückzulegen. Das war ein neuer Rekord und gut so, denn wie immer war er spät dran.

      Sein Gymnasium lag am Inneren Grüngürtel, einer Parkanlage, die dem ehemaligen Festungsring der Stadt folgte und sie in einen inneren und äußeren Bezirk unterteilte. Links ragte der Fernsehturm in die Höhe, rechts kam zuerst der Aachener Weiher,