»Dir auch ein freundliches Hallo«, maulte sie vorwurfsvoll. »Schön, dich zu sehen.«
Für ihre zehn Jahre war sie ganz schön frech.
»Wieso bist du schon zu Hause?«, fragte Tim verblüfft. »Die Betreuung geht doch bis vier.«
»Läuse«, lautete die lapidare Antwort. »Ich habe Hunger.«
»Hm.« Tim durchsuchte den Schrank. »Wie wär’s mit Ravioli?«
»Klaro. Ruf mich, wenn’s fertig ist.« Wusch, weg war sie.
Tim war viel zu sehr in Gedanken, um sich über ihr Benehmen aufzuregen. Er war es gewohnt, von ihr wie ein Dienstbote behandelt zu werden. Dreiundzwanzigtausend. Das war vor einigen Stunden gewesen. Wie der Stand wohl inzwischen sein mochte? Das Internetportal WorldRunner bewegte sich in einer rechtlichen Grauzone. Manche Länder akzeptierten sie stillschweigend, andere, so wie Deutschland, beobachteten die Aktivitäten mit Argusaugen. Was auch der Grund war, warum man die Seite nur über ein ausgeklügeltes System erreichte. Mit einem Handy war das unmöglich. Ständig wurden die Serverstandorte verändert. Modernste Verschlüsselungsalgorithmen verschleierten den Ursprungsort der Betreiber. Tim hatte Gerüchte gehört, dass die Spielefirma GlobalGames-Incorporated in San Francisco dahintersteckte, doch ihr CEO, ein Mann namens Mortimer Hansen, wies alle Anschuldigungen von sich. Was die Behörden so alarmierte, war nicht der Umstand, dass Jugendliche bei dem Spiel mitunter in Lebensgefahr gerieten, sondern dass rund um die Spiele gewettet wurde. Illegales Glücksspiel um hohe Geldbeträge mochten die Gesetzeshüter nicht.
Tim war’s egal, er wettete ohnehin nicht. Er war Runner, kein Viewer. Aber die, die auf seinen Erfolg gewettet hatten, waren jetzt möglicherweise um ein paar Hunderter oder Tausender ärmer. Vielleicht war das der Grund für den lauten Spott. Dreiundzwanzigtausend!
Er konnte es kaum erwarten, die neuesten Zahlen abzurufen. Am Esstisch sah Emily ihn neugierig an, während er hastig die Ravioli runterschlang.
»Du bist echt komisch heute«, sagte sie mit schiefem Blick.
»Bin nicht komisch«, murmelte er mit vollem Mund.
»Von wegen. Andauernd schielst du rüber in dein Zimmer. Ist was mit deinem Computer?«
»Hab nur viel um die Ohren.« Er spülte den Bissen mit einem Schluck Apfelschorle runter und schob dann den Topf zu Emily rüber. »Ist für dich.« Hastig trank er noch einen letzten Schluck und wollte gerade aufstehen, als Emily die Bombe platzen ließ.
»Es hat mit dem Spiel zu tun, oder?« Sie grinste.
Er hob eine Braue. »Was meinst du?«
»Ich weiß, was du machst. Ich weiß, dass du gestern nicht am Decksteiner Weiher warst.«
Tim zuckte zusammen. »Wovon redest du?«, fragte er möglichst beiläufig.
»Ich bin nicht blöde, ich habe den Film gesehen.«
Um ein Haar hätte er das Glas fallen lassen. »Was für ein Film? Keine Ahnung, wovon du redest.« Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Was nicht einfach war. »Ich habe jetzt keine Zeit für so einen Kinderkram. Die nächste Stunde will ich nicht gestört werden, verstanden?« Er stand auf, ging in sein Zimmer und wollte die Tür hinter sich schließen, doch Emily kam ihm zuvor. »Ich sag’s Papa, wenn du es mir nicht erzählst. Max aus unserer Klasse hatte seinen Laptop dabei und hat uns den Film in der Pause gezeigt. Niemand wusste, dass du das bist, aber ich habe dich gleich erkannt. Deswegen warst du auch so nass.« Voller Stolz strahlte sie ihn an.
Tim wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Seit wann durften die kleinen Kröten ihre Rechner mit in die Schule nehmen? Und wie zum Henker hatten sie es geschafft, sich in das Netzwerk von WorldRunner einzuloggen?
»Also dann, das ist der Deal …« Emily trat auf ihn zu. »Du sagst mir, was du da getan hast, und lässt mich mitmachen oder ich erzähle Papa heute Abend alles. Der findet das bestimmt gar nicht gut.« Ihr Grinsen wurde breiter.
»Das wagst du nicht!«, war alles, was ihm einfiel. Eine ziemlich halbherzige Drohung, die Emily sofort durchschaute.
»Sonst noch was?«, fragte sie. »Willst du mich etwa verhauen?« Sie sah ihn herausfordernd an. »Ich bin hier diejenige, die Aikido macht. Dich habe ich in zehn Sekunden auf der Matte.«
Tim versuchte, sie mit seinen Blicken zu vernichten, spürte aber, dass er keine Chance hatte. Emily war viel sturer als er. Was das betraf, kam sie ganz nach ihrer Mom. Davon abgesehen, traute er ihr durchaus zu, dass sie ihn notfalls wirklich verpetzte.
»Was du hier machst, nennt man Erpressung«, murmelte er mit hängenden Schultern.
»Weiß ich doch.« Sie fing an abzuräumen. Das tat sie sonst nie. »Ich kann schweigen wie ein Grab«, verkündete sie mit tiefernster Miene. »Von mir erfährt niemand was. Hauptsache, du lässt mich mitmachen. Stimmt es, dass ihr alle falsche Namen habt und man damit Geld verdienen kann?«
»Falsche Namen, ja«, sagte er. »Geld verdienen, eher nicht. Aber es macht Spaß, deshalb tue ich es.« Er biss sich auf die Unterlippe. Sollte er ihr erzählen, dass er damit angefangen hatte, weil Mom selbst eine begeisterte Geocacherin gewesen war – eine Vorform der GlobalGames? Er tat es, um sich an sie zu erinnern und sich ihr nah zu fühlen.
Nach und nach begann er zu erzählen und ertappte sich dabei, dass er nicht mal mehr versuchte, nicht zu viel preiszugeben.
Irgendwie tat es gut, sich mal jemand anderem als Farid anzuvertrauen. Trotz der Zugehörigkeit zu einer Community waren Runner einsame Kämpfer. Das lag in der Natur der Sache. Eine Verbündete im eigenen Haus wäre durchaus von Vorteil, überlegte er. Emily könnte ihm den Rücken freihalten, wenn Dad peinliche Fragen stellte. Sie könnte seine Geschichten bestätigen, ihm notfalls vielleicht sogar ein Alibi verschaffen. Vorausgesetzt, sie hielt dicht.
»Unter einer Bedingung«, sagte er. »Du erzählst niemandem etwas und du stellst keine dummen Fragen. Ich entscheide, was und wie viel ich dir sage. Und ich entscheide, wann. Sollte ich merken, dass du mir hinterherspionierst oder anderen davon erzählst, ist unser Deal geplatzt.«
»Verstanden.«
»Und kein Sterbenswörtchen zu Dad. Seit Moms Tod hat er so viel um die Ohren, da kann er nicht noch zusätzlichen Stress brauchen.«
Emily nickte ernst. »Okay.«
»Und wir teilen uns die Arbeit im Haushalt.«
Sie schnaubte empört. »Übertreib’s nicht!«
4
Im achttausend Kilometer entfernten Seattle ließen Hunderte von Bürolampen die oberste Etage der Space Needle erstrahlen. Wie eine fliegende Untertasse schwebte der Turmkopf über der Stadt und verlieh dem Bauwerk sein unverwechselbares Aussehen.
Mortimer Hansen, Chief Executive Officer der Firma Global-Games-Incorporated und inoffizieller Betreiber der Internetplattform WorldRunner, fegte einen Krümel von seinem Jackett, während er mit dem Aufzug nach oben sauste.
Die Space Needle war eines der Wahrzeichen Seattles. Lange Zeit im Besitz der Stadt, war sie vor einigen Jahren von einer privaten Unternehmerin gekauft worden, die sich jetzt auch Hansens Firma einverleibt hatte. Mortimer Hansen hatte im Laufe seines Berufslebens jede Menge Spiele produziert. Einige davon waren recht erfolgreich, jedoch keines so sehr wie dieses Handygame, das er und sein damaliger Partner sich während ihrer Zeit an der Universität ausgedacht hatten. GlobalGames. Eine Goldgrube und der Startschuss für seine Karriere.
Der Fahrstuhl hielt an. Mortimer warf einen letzten Blick in den Spiegel, dann glitten die Türen auseinander.
In der Vorstandsetage herrschte reger Andrang. Menschen verschiedenster Nationalität liefen herum oder gruppierten sich um schlanke Stehtische. Manche hielten Sektgläser in der Hand, andere aßen Häppchen. Mortimer hatte keinen