Unsere Gesellschaft versucht auf der einen Seite, die negativen Auswirkungen von Macht zu begrenzen. Fälle von Machtmissbrauch werden häufig zu Skandalen in den Medien, und wir sind bestrebt, Machtmissbrauch zu ächten, indem wir Gesetze dagegen erlassen. Dies wird jedoch nie vollständig gelingen, weil jeder Machtmissbraucher, der aus seiner Position entfernt wurde, früher oder später durch einen anderen ersetzt wird, solange die Strukturen dafür existieren und solange Menschen nach Geld, Macht, Vermögen und Bedeutung streben. Die Fälle, die aufgedeckt werden, haben sicherlich eine abschreckende Wirkung, doch wird immer nur ein Teil der Fälle von Machtmissbrauch publik, und ein Teil bleibt unentdeckt. Auf eine gesamtgesellschaftliche Erkenntnis eines Fehlverhaltens kommen zahllose individuelle Versuche, sich persönlich zu bereichern. Während ein Fehlverhalten durch die Aufdeckung eines Skandals geächtet wird, sucht weltweit die Mehrzahl aller Entscheider in Unternehmen und Politik nach legalen und zum kleineren Teil auch nach illegalen Möglichkeiten der Machtanhäufung. Sie lernen dabei aus den „Fehlern“ ihrer Vorgänger und versuchen, negative Publicity zu vermeiden.
Es ist unsinnig, dass wir auf der einen Seite als Einzelpersonen ein Streben nach Macht und persönlichem Fortkommen gutheißen und auf der anderen Seite als Gesellschaft Maßnahmen gegen Machtmissbrauch ergreifen. Erst wenn die Menschheit mehrheitlich nicht mehr glaubt, dass Macht etwas Erstrebenswertes sei, wird das Problem des Machtmissbrauchs wirklich gelöst.
Machtstrukturen und geistige Entwicklung
Kinder in den ersten sechs bis sieben Lebensjahren haben ebenso wie Völker, die als Ganzes den entsprechenden Entwicklungsschritt noch nicht vollzogen haben, eine größere Regelgläubigkeit als heutige westliche Menschen (siehe auch Kapitel 2.8). Der Glaube an Regeln macht es Herrschern leichter, ihre Macht zu festigen. Sind die Regeln einmal aufgestellt, werden sie weniger in Frage gestellt. Das ist der Entwicklungsstand, der bis zum Ende des Mittelalters überall herrschte und der Demokratie verhinderte: „Hätte die Menschheit schon immer Demokratie und Rechtsstaat ‚gewollt’ und ‚gekonnt’, dann hätte es die ‚déclaration des droits’ schon im Altertum und in außereuropäischen Kulturen gegeben. […] Vormoderne Bevölkerungen wählen König, Führer, Imam, Ayatollah und Diktator aus freien Stücken, weil sie mit Demokratie Chaos verbinden. […] Das ist aber […] die Vorstellung des Kindes mit Blick auf die Eltern. Die vormodernen Völker offenbaren damit, wie es zahlreiche Autoren und Kommentatoren gesagt haben, dass sie zur Demokratie noch gar nicht reif sind […].“107
„Demzufolge ist der Gegensatz von antidemokratischem und repressivem Machtapparat einerseits und demokratischen Bevölkerungsanteilen letztlich auf die Schwäche des demokratischen Bewusstseins des ganzen Volkes zurückzuführen. Diese Betrachtung wird dadurch ergänzt, dass der Riss zwischen Revolutionären und Konterrevolutionären durch das ganze Volk verläuft und nicht nur zwischen Apparat und Volk. […] Das ägyptische Volk hat 5.000 Jahre lang unter der Knute von Pharaonen und Autokraten gestanden, aber nie daran gedacht, Demokratie und Rechtsstaat aufzubauen. Es hat in der pharaonischen Zeit niemals eine Revolution gewagt, nicht einmal gedacht, mit dem Ziel, Demokratie und Rechtsstaat aufzubauen. Armut und Unterdrückung waren damals schlimmer als unter Mubarak, aber niemand dachte an eine Revolution.“108
Unser heutiger westlicher Entwicklungsstand erschwert Diktaturen und große Machtungleichgewichte. So gesehen haben wir in der westlichen Welt schon einen großen Fortschritt erreicht und einen Schritt in Richtung Freiheit getan.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass dies nicht für alle Menschen auf der Welt gilt. Die, die in archaischeren Verhältnissen leben, können nicht so leicht von – nach unserem Verständnis – falschen Machtverhältnissen befreit werden, denn ihre Regelgläubigkeit lässt sie diese Verhältnisse mittragen: „Menschen autoritärer Gesellschaften fehlt jedes Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen, aus freien Stücken, ohne Kontrolle und Gewalt, Disziplin, Moral und Gesetz zu befolgen.“109 Wenn wir diese Unterschiede in den Denkweisen bei unseren Entscheidungen nicht berücksichtigen und die Haltung der betreffenden Menschen nicht respektieren, werden wir dadurch Kriege vom Zaun brechen.
Wenn beispielsweise westliche Campaigning-Plattformen in Europa Stimmen für die Gleichstellung von Schwulen und Lesben in der arabischen Welt sammeln, wird das von den meisten der dort lebenden strenggläubigen Moslems höchstwahrscheinlich als Angriff von Ungläubigen und als westliche Überheblichkeit ausgelegt. Und daran haben die Unterzeichner der Petitionen Mitverantwortung, denn Menschen, die einen wirklich ernsthaften Glauben bis weit ins Erwachsenenleben beibehalten haben, können diesen kaum mehr ablegen – unabhängig davon, ob sie es selbst wollen oder nicht.
Macht ist der falsche Wert
Es hält sich der Irrglaube, dass Machtwille normal sei und zu Führungspositionen führen solle. Ein optimales System ist in einem für alle Menschen nützlichen Zustand selbststabilisierend. Systeme, die darauf beruhen, nur durch guten Willen und ausgeprägte Erkenntnisfähigkeit des Menschen human zu werden, sind anfällig für Missbrauch und Missstände. Unsere Gesellschaft schafft mit der Möglichkeit zur Machtanhäufung eine kontinuierliche Kraft, die die Ungleichverteilung fördert.
Man hält es für unvermeidlich, dass auch die Träger der Macht Fehler haben und nimmt diese hin. Je größer die Macht, über die ein Mensch verfügt, desto größer wird auch die mögliche Zerstörung, die er anrichten kann. Die Konsequenz daraus kann aber nicht sein, dass wir die Macht besonders ausgewählten, geschulten oder moralischen Menschen geben sollten, denn auch diese können durch die Macht korrumpiert werden und werden früher oder später ihre Macht missbrauchen.
Der dem Klischee entsprechende Machtmensch glaubt üblicherweise an die Ellenbogengesellschaft als ein Ideal und hat es aufgrund dieses Denkens und seines Machtstrebens nach oben geschafft. Auf der Grundlage dieser Überzeugung kämpft er sich nach oben.110 Andere, die zwar selbst nicht nach oben streben, aber den gleichen Glauben teilen, erleichtern ihm den Aufstieg, indem sie ihn gewähren lassen oder ihn fördern. In Hierarchien in Firmen fällt ein solcher Mensch nach oben, und niemand achtet darauf, dass der Aufstieg mit einer Zunahme der persönlichen Verantwortung einhergeht. Er wird, da die Entwicklung seiner Empathie nicht zwangsweise mit seinem Machtzuwachs Schritt gehalten hat, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mehr Schaden als Nutzen erzeugen.
Nicht Machtmissbrauch ist das Problem, sondern die Existenz von Machtstrukturen an sich. Es ist nicht nur so, dass Macht korrumpieren kann – Macht korrumpiert mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, wenn nur genügend Zeit vergeht.
Niemand möchte von unbarmherzigen Selbstoptimierern regiert werden. Also sollten wir unsere Werte überdenken. Es sind die falschen Werte in unseren Köpfen, die zum falschen Ergebnis führen. Macht ist gesamtgesellschaftlich kontraproduktiv. Daher sollten alle Anreize zur Machtanhäufung vermieden werden. Die Lösung des Machtproblems liegt aber erst im gesamtgesellschaftlichen Verzicht auf das Streben nach Macht. Und dieser Konsens kann sich nur dadurch einstellen, dass alle Menschen die negativen Folgen von Machthäufungen erkennen, so wie wir vor Jahrhunderten erkannt haben, dass mittelalterliche Folter menschenverachtend ist und sie daraufhin unterlassen haben.
Macht braucht Begrenzung
Wir haben gesehen: Das beständige Anhäufen von Macht muss wirksam begrenzt werden. Daher sollten wir bei der Veränderung unserer Gesellschaft danach streben, mit möglichst wenig Hierarchien und Machtpositionen auszukommen.
Die direkte und extremste Maßnahme wäre der Verzicht auf persönlichen Besitz. Dies wird erst in ferner Zukunft möglich werden, denn mit unserer