Wer sich über diesen immensen Unterschied im Verhalten von Säuglingen und Erwachsenen wundert, dem möchte ich eine Parallele aus dem Tierreich beschreiben: Auf meinem Balkon nistete vor einigen Jahren ein Ringeltaubenpärchen und zog dort zwei Junge auf. Die Taubeneltern waren so scheu, dass sie sofort davonflogen, wenn ich nur das dahinter liegende Zimmer betrat und sie mich schemenhaft durch die Scheibe erspähen konnten. Als ich den Taubenküken einmal in Abwesenheit der Eltern etwas zu Fressen geben wollte, hackte eines der Küken nach meiner Hand und wollte mich vom Nest verscheuchen – völlig ignorierend, dass in etwa das Tausendfache des Kükens wog. Ich war über seine Aggressivität erstaunt, aber dies war die einzige Handlung, die diesem Tier überhaupt noch etwas nützen konnte. Auch solche extremen Wandlungen der Angstempfindungen zwischen Kindern und Eltern sind möglich, sofern sie der Arterhaltung dienen. Ausgezogen sind die beiden Küken übrigens dann, als sie etwas größer waren und ein Nachbar eine Decke aus dem Fenster schüttelte – zu diesem Zeitpunkt konnten sie sicherlich Angst vor größeren Tieren erleben.
Die Überwindung der Einsamkeit
Der Umgang mit Babys änderte sich mit der 68er-Generation, der zunehmenden Beschäftigung mit Psychologie und der zurückgehenden Zahl der Kriegstraumatisierten. Seinen juristischen Niederschlag fand dieser Wandel des Denkens allerdings erst im Jahre 2000 mit dem Verbot der Prügelstrafe.
Die frühere dauerhafte und flächendeckend falsche wie grausame Behandlung von Babys kann nicht ohne Einfluss auf die Gesellschaft und ihre Ansichten bleiben. Das Gefühl des Richtig-Seins kann nur entstehen, wenn ein Baby Körperkontakt, Geborgenheit, Gestilltwerden und liebevollen Umgang erfährt. Jean Liedloff zitiert die Aussage der Verhaltensforscherin Jane Goodall über deren Kind, das nie schreiend in seinem Bettchen allein gelassen wurde, sondern von seinen Eltern überallhin mitgenommen wurde. Es sei in auffälliger Weise „’außerordentlich gehorsam, aufgeweckt und lebendig […], verhältnismäßig angstfrei und anderen gegenüber rücksichtsvoll’“ und vor allem unabhängig.141
Der Unterschied in der erlebten Geborgenheit und dem daraus folgenden Gefühl der Richtigkeit im eigenen Körper und im Leben wird sich unabhängig davon einstellen, ob er der betreffenden Person bekannt und bewusst ist: „Fühlt es [das Baby] sich sicher, erwünscht und ‚daheim’ als Mittelpunkt der Aktivität, noch ehe es denken kann, so wird sich seine Sichtweise späterer Erfahrungen qualitativ sehr von jener eines Kindes unterscheiden, das sich unwillkommen und aufgrund von fehlender Erfahrung nicht angeregt fühlt und das sich an einen Zustand unerfüllten Verlangens gewöhnt hat, obwohl die späteren Erfahrungen beider Kinder identisch sein können.“142 Sie beschreibt am Beispiel der Yequana, dass Menschen, die als Baby ohne diese Leidensgeschichte aufwuchsen, im Erwachsenenleben zu mehr Vertrauen fähig sind, sich weniger unsicher fühlen, mehr Integrität und Selbstbewusstsein besitzen, mehr Geborgenheit statt Einsamkeit empfinden und kaum die Entfremdung kennen, die viele von uns in der Gesellschaft erleben und die Erich Fromm in seinem Buch Der moderne Mensch und seine Zukunft eingehend analysiert hat.
Die Vorstellung dieses Ausmaßes der „Richtigkeit“ muss Menschen schwerfallen, die solche Geborgenheit nur ansatzweise oder gar nicht erlebt haben. Leider habe ich auch eine solche Vorgeschichte, und mir geht es ebenso – das Gefühl der Einsamkeit ist mir geläufiger als das der Geborgenheit.
Anhand des Kontrastes zwischen den Beschreibungen wird jedem klar werden, wie groß der Unterschied zwischen den unterschiedlichen Behandlungsweisen von Babys ist – egal ob die persönliche Erfahrung die richtige oder die grausame war. Wer nie über längere Zeit Todesangst und stattdessen Geborgenheit erfahren hat, wird wesentlich mehr im Leben ruhen, sich auf sich selbst verlassen, seltener Angst vor Versagen oder Katastrophen haben, leichter an das Gute glauben können und vor allem weniger Stress empfinden – weil diese Nervenbahnen bei ihm seltener aktiviert wurden und daher nicht so stark ausgebildet sind. Ausreichende Geborgenheit im Kleinkindalter hat einen Einfluss auf das Zusammenleben der Menschen: „Es gibt keinen Wettbewerb, keinen Streit, keine Gewalt unter den Kindern der Yequana.14
Von Natur aus schlecht?
Laut Liedloff haben wir alle Eigenschaften, die wir benötigen. Wir sind nicht von Natur aus unzureichend oder schlecht. Zu demselben Schluss kommt A. S. Neill, der Gründer der Schule in Summerhill: „Wenn wir einen Säugling betrachten, wissen wir, dass an ihm keine Schlechtigkeit ist – ebensowenig wie an einem Kohlkopf oder Tiger. Das Neugeborene bringt eine Lebenskraft mit, seinen Willen, seinen unbewußten Drang zu leben.“144
Obwohl dies mittlerweile auch von anderen Autoren beschrieben wurde, hält sich in unserer Gesellschaft hartnäckig die Phantasie von der Notwendigkeit einer aktiven „Erziehung“. Schon Rousseau hat sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Seit Bücher über „Erziehung“ geschrieben werden, existiert die Idee, Kinder seien von Natur aus egoistische und unzulängliche Wesen, die erst geformt werden müssten, bevor sie gesellschaftsfähig sind. Kindern wurden keine Bedürfnisse zugestanden. Ein Kind, das keine Geborgenheit bekam, mag für seine Eltern deshalb quengelig und „ungezogen“ gewesen sein. Der Mangel an Liebe hat in ihm den Glauben erzeugt, es sei unzureichend, und entsprechend verhielt es sich.
Mit der Industrialisierung adaptierten auch Unternehmen den Gedanken, Menschen seien von Natur aus unzureichend: Sie entdeckten, dass man im Menschen Bedürfnisse wecken kann, indem man ihm vermittelt, ohne das von ihnen angebotene Produkt fehle ihm etwas Wichtiges. So brauchen wir heute rückfettende Shampoos, Vitaminpräparate, Spezialbekleidung, und wir achten sehr darauf, dass unser Essen als gesund deklariert ist. Uns wird gesagt, dass wir ohne die tausend kleinen Helferlein nicht gesund sein und nicht alt werden können oder ohne sie nicht lebensfähig sind. Wären wir tatsächlich so empfindlich, gäbe es uns schon lange nicht mehr. Sicherlich ist im Winter eine federleichte, winddichte Jacke bequemer als ein Bärenfell. Aber auch in einem Bärenfell wird man nicht sofort sterben. Und ohne ein rückfettendes Shampoo wird man sicherlich genauso alt wie mit einem solchen. Haben Sie schon einmal wirklich gespürt, dass Sie der Stressfrei-Badezusatz mehr entspannt hat als ein herkömmlicher? Oder war es doch eher die Hoffnung auf etwas Schönes, die Sie das entsprechende Produkt wählen ließ? Die Werbung signalisiert uns nicht nur, dass mit dem jeweiligen Produkt unsere Welt besser wäre, sondern auch, dass wir ohne es unvollständig sind. Damit wird genau das Gefühl angesprochen, das wir schon aus unserer Kindheit mitbringen. Die Suche nach Kompensation dieses Unvollständigseins lässt uns zu Drogen greifen und uns nach Macht, Anerkennung, Bewunderung, Sex, Konsum oder Geld streben, uns esssüchtig, bulimisch oder magersüchtig werden. Sie fördert unser Leistungsbewusstsein, unsere Gier sowie unseren Drang nach Geltung und Bestätigung.145 Erich Fromm schreibt über den Zusammenhang zwischen innerer Leere und Gier: "Selbstsucht ist nicht dasselbe wie Selbstliebe, sondern deren genaues Gegenteil. Selbstsucht ist eine Art Gier. Wie jede Gier ist sie unersättlich und daher nie wirklich zu befriedigen. Die Gier ist ein Fass ohne Boden. Der Gierige erschöpft sich in der nie endenden Anstrengung, seine Bedürfnisse zu befriedigen, ohne daß ihm dies je gelingt. Genaue Beobachtung zeigt, daß der Selbstsüchtige zwar stets eifrig darauf bedacht ist, auf seine Kosten zu kommen, daß er aber nie befriedigt ist und niemals Ruhe findet, weil ihm stets die Angst im Nacken sitzt, er könnte nicht genug bekommen, es könnte ihm etwas entgehen und er könnte etwas entbehren müssen."146
Bekommt ein Kleinkind nicht Muttermilch, Liebe, Geborgenheit und Körperkontakt – was lernt es daraus? Dass es sehr darauf achten muss, dass es alles bekommt, was es braucht. Natürlich lernt es das nicht in Worten, aber es wird Defizite bei seinen Bedürfnissen sehr viel stärker spüren, als es sein sollte, und es wird entsprechend empfindlich darauf reagieren. Und wenn es älter wird, ist dies die ideale Grundlage für ein Leben in ständigem Streben und Sucht nach Konsum. (Eine weitere Ursache unseres Konsums, den Sammeltrieb, habe ich ab Seite 46 erörtert.) Die meisten von uns haben Kinder wohlhabender Menschen erlebt, die in dieser Hinsicht besonders auffällig waren, die scheinbar alles hatten, was man sich wünschen konnte, und trotzdem nie zufrieden waren.
Wir streben und streben…
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