Juli Zeh schreibt in einem in der der Zeit abgedruckten offenen Brief an Angela Merkel:87 „Was NSA und Internetkonzerne wie Google oder Facebook betreiben, ist kein Datensammeln aus Spaß an der Freud. Auch hat es wenig mit dem zu tun, was Sie oder ich unter nationaler Sicherheit verstehen. Ziel des Spiels ist das Erreichen von Vorhersehbarkeit und damit Steuerbarkeit von menschlichem Verhalten im Ganzen. Das funktioniert heute schon erschreckend gut. Wer genügend Informationen über die Lebensführung eines Einzelnen miteinander verbindet und auswertet, kann mit erstaunlicher Trefferquote voraussehen, was die betreffende Person als Nächstes tun wird…“ Solange die Internetkonzerne Milliarden durch das Sammeln und Verkaufen von Daten verdienen, kann die Auswirkung nicht unbedeutend sein – sonst wäre das ihren Kunden aus der (Werbe-)Industrie nicht so viel Geld wert. Die Konzerne Amazon und Google sind an der Börse mit achthundert und sechshundert Milliarden Dollar bewertet, Tendenz steigend. Facebook kommt auf vierhundert Milliarden, und es läuft der interne Wettbewerb, wer als erster die Billion knackt.
Google, Facebook, Amazon und andere sammeln alle Informationen, derer sie habhaft werden können, und ermitteln aus dieser Datenfülle Zusammenhänge jeglicher Art. Wer beispielsweise ausschließlich bei Internetversendern bestellt, kein Auto besitzt und niemals Urlaubsreisen bucht, ist mit größerer Wahrscheinlichkeit gehbehindert. Googles Vorteil auf dem Werbemarkt beruht darauf, dass es den Verkäufern nicht nur Unmengen von Adressen liefern kann, sondern insbesondere die potentiellen Kunden aus der Masse extrahieren kann. Viele denken: „Was wollen denn Ebay, Facebook, Google oder Amazon mit meinen Daten anfangen? Und wenn sie etwas davon haben, so nützt es doch auch mir, wenn mir Dinge beworben oder angeboten werden, nach denen ich suche.“ Aber erstens haben diese Konzerne mehr bekommen, als sie gegeben haben – wesentlich mehr, sonst wären sie nicht innerhalb eines Jahrzehnts von Null auf die heutigen, gigantischen Bewertungen an der Börse gesprungen. Und zweitens kann man das leicht widerlegen. Beispielsweise könnte eine Versicherung, die von Google Informationen oder Beratung einkauft, Lebensversicherungen nur noch an Kerngesunde und Unfallversicherungen nur noch an sehr besonnene Menschen verkaufen, da Google dieses Wissen aus unseren Daten herausfiltern kann. Andere Menschen würden aus unerklärlichen Gründen von den Versicherungen abgelehnt oder müssten Wucherpreise bezahlen, weil Google aus deren Verhalten im Internet ermittelt hätte, dass sie ein statistisch erhöhtes Risiko aufweisen, in einen Unfall verwickelt zu werden oder sich eine schwere Krankheit zuzuziehen. Damit wäre die Idee der Versicherung ad absurdum geführt und das Geldverdienen optimiert. Und von alledem bekämen wir Kunden nichts mit.
Was, wenn Amazon durch Analyse der Daten seiner Nutzer herausfindet, dass achtzig Prozent der Menschen, die innerhalb von wenigen Monaten mehrfach in einem Weinversand bestellen, Alkoholiker sind? Und vielleicht wundern Sie sich, warum Ihnen beim Hausbau niemand einen Kredit geben will, dessen Zinssatz nicht zwei Prozent über dem marktüblichen Wert liegt. Ihnen wird niemand sagen, dass die Banken Ihre Daten über die Schufa mit Amazon abgeglichen haben und Ihnen nun niemand mehr zutraut, die nächsten zwanzig Jahre im Job zu überstehen. Oder Sie haben schon einmal als alleinstehender Mann in einem Spielzeugversand bestellt, und Google hat durch automatisierte Datenanalyse herausgefunden, dass alle bekannten alleinstehenden deutschen Pädophilen ebenfalls in einem Spielzeugversand eingekauft haben. Wenn Sie bei der nächsten Einreise in die USA stundenlang gefilzt werden, halten Sie das vielleicht für Zufall. Und niemand wird Ihnen sagen, dass Sie zur Intensivkontrolle ausgewählt wurden, weil die NSA Zugriff auf die Google-Daten hatte. Es lassen sich unzählige weitere solcher Fälle konstruieren.
Bei den großen Internetkonzernen „handelt [es] sich um Privatgelände, das Konzernen gehört, Öffentlichkeit und Transparenz werden nur simuliert. Wie in einem Shoppingparadies werden Waren und Werbung strategisch platziert und unerwünschte Personen und fragwürdiges Verhalten strukturell und aktiv ausgeschlossen.“88
Die Macht, die Google, Facebook, Amazon und andere aktuell durch Datensammeln anhäufen, ist undemokratisch, weil sie durch Gewinnabsicht motiviert ist. Dasselbe gilt für staatliche Massenüberwachung und für Freihandelsabkommen: Abkommen wie TTIP, TISA oder CETA dienen dazu, Macht zu festigen oder auszubauen, ebenso die Überwachung der Welt durch die NSA. Dass all dies im Geheimen vorangetrieben wurde, zeigt, dass die Akteure befürchten, ihre Ziele im Falle einer Veröffentlichung zu verfehlen.
Kann man es ignorieren, dass alle alles über einen wissen? Nur wenn alle Menschen wohlwollend miteinander umgehen würden – aber dieses Ziel haben wir noch nicht erreicht. Dadurch, dass andere Informationen über uns haben, verlieren wir an Freiheit. Personenbezogene Informationen werden kommerziell verwertet, um uns zu manipulieren, und sie schaffen die Möglichkeit, uns zu erpressen. Diese Datenbasis kann zum Aufbau einer Diktatur genutzt werden.89 Die Gefahr einer Diktatur steigt, wenn man das Datensammeln in diesem Ausmaß duldet. Wann die kritische Masse erreicht und die Grenze überschritten wurde, wird die Zukunft zeigen. Dieser Missbrauch der Macht ist nur noch nicht eingetreten.90 Es dauert immer seine Zeit, bis die Möglichkeiten der Ausbeutung erkannt und genutzt werden. Man denke an Rationalisierung, Globalisierung, Korruption, Ausbeutung von Ressourcen und die Freigabe der Geldschöpfung durch die Banken (dazu mehr in Kapitel 3.6). Die Phase, in der die neuen Möglichkeiten aufkommen und noch nicht missbraucht werden, taugt also kaum als Beweis, dass dies nicht geschehen wird. Aber heute wird oft angenommen, die Datensammelei sei nicht gefährlich, weil ja bisher nichts passiert sei. Die Verfügungshoheit über die eigenen Daten ist daher keine Freiheit, auf die man verzichten kann, nur weil sie noch nicht missbraucht wurde.
Es ist Ziel der allumfassenden Datensammlung der NSA, den USA die weltweit größte Macht zu verschaffen und zu sichern.91 Möglicherweise ist die Entscheidung, alles und jeden zu überwachen, der Versuch, die Macht zu erhalten oder auszubauen, da dies mit reinen militärischen Mitteln nicht mehr über lange Zeit gelingen könnte. Datensammeln ist die einfachere Art, die eigene Macht zu festigen, weil sie schwerer aufzudecken ist.
Überwachung schürt Angst und treibt die Bürger auseinander. Das ist die Methode von Diktatoren. Das stärkste Argument gegen Überwachung und Datensammeln ist, dass keiner der Befürworter sie bei sich zulassen würde – egal ob es um die CEOs von Ebay, Facebook, Google oder Amazon oder um Regierungsvertreter geht: Wer dieser Menschen würde sein Privatleben, seinen Aufenthaltsort, seine Gespräche und Gesprächspartner freiwillig veröffentlichen?92
Gern wird argumentiert: „Wer sich nichts zuschulden kommen lässt, hat auch nichts zu befürchten“. Diese scheinbare Logik lässt folgendes außer Acht93: Freiheit ist immer die des Andersdenkenden. Jede Diktatur überwacht nur ihre Gegner. Die Mitläufer und Befürworter haben selbstverständlich ein leichtes Leben. Ein System, das die Mehrheit nur deshalb nicht überwacht, weil deren Meinung mit der Systemvorgabe übereinstimmt, ist nicht frei.
Ein Mensch, der sich beobachtet fühlt, verhält sich anders, als wenn er unbeobachtet ist. Wenn wir dauernde Beobachtung hinnehmen, gewöhnen wir uns an eine Unfreiheit des Denkens, deren Auswirkungen wir noch nicht kennen.
Mit dem Anhäufen von Daten ist es wie mit dem Anhäufen von Macht: Es wird nicht erst gefährlich, wenn die Daten oder Macht missbraucht werden, sondern die Gefahr liegt schon in ihrer Anhäufung.
Das gilt auch für Staaten: Für die Gleichberechtigung auf der Welt wäre es ein Fortschritt, wenn es keine Großmächte mehr gäbe, sondern nur noch Kleinstaaten. So wie ein Rudel aus vielen Individuen besteht, von denen keines stark genug ist, alle anderen zu dominieren, würde auch ein Konstrukt vieler Kleinstaaten als Weltgemeinschaft verhindern, dass ein Staat sich über die anderen erheben kann.94 Eine EU bestehend aus vielen autonomen Kleinstaaten würde den Einzelinteressen beispielsweise von Bayern eher gerecht, denn jeder Kleinstaat könnte seine regionalen Befindlichkeiten berücksichtigen.95 Weiterhin würde sich niemand mehr beschweren, dass Deutschland die EU dominiere.
Wissen ist Macht
Wissen über andere ist Macht über andere. Wer exklusives Wissen über andere Menschen