Peinlichkeits- und Schamempfinden korrelieren mit dem Bewusstsein. Erst die Möglichkeit, dass das Ich sich seiner selbst bewusst sein kann, erzeugt Scham. Tiere empfinden (fast) keine Scham. Der erste Schritt zum Selbst-Bewusstsein war der „Sündenfall“ (siehe Kapitel 4.1), der zweite die Aufklärung. Das erklärt, dass die Schamschwelle primitiver Völker deutlich höher liegt, denn ihr Bewusstsein ist noch weniger stark. Je empfindsamer ein Mensch ist und je mehr er sich seiner selbst bewusst ist, desto empfänglicher ist er für Schamgefühle.
Scham ist von einer äußeren Instanz ausgelöst, Schuld von einer inneren. Schuld kann durch Buße, Einsicht und Verzeihen abgetragen werden, Scham dagegen nicht. In allen Kulturen gibt es beide Gefühle, aber sie werden unterschiedlich gewichtet. Es scheint, als sei die Schamkultur älter und hat sich durch Weiterentwicklung langsam zur Schuldkultur gewandelt. In meinen Augen hängen Scham- und Schuldkultur auch mit dem Wandel gesellschaftlicher Normen zusammen: Am Anfang unserer Geschichte stand die Gemeinschaft, in der der Einzelne kaum zählte, und daraus resultierte die Schamkultur. Die Regulierung über die Scham bedeutet, dass die Gemeinschaft immer Priorität vor dem Einzelnen hat. Daher ist eine Verfehlung (ein Gesichtsverlust) in der Schamkultur endgültig. Erst die Schuldkultur stellt den Einzelnen in den Vordergrund; er selbst kann (als Ich) für sein Handeln verantwortlich sein und seine Schuld abtragen.
Auch unsere heutige Welt besteht aus Hierarchien. Die Strukturen der Macht sind meist nicht mehr so offensichtlich wie in früheren Zeiten. Aber der Druck ist für die meisten als Stress bei der Arbeit spürbar. Unsere ganze Berufswelt ist von Hierarchien durchzogen. Stimmt nicht, sagen Sie, weil Ihr Chef Ihnen kaum Anweisungen gibt? Doch, sage ich, dies drückt die Entwicklung von der Scham- zur Schuldkultur aus: Wir haben die Spielregeln so verinnerlicht, dass man sie nicht mehr aussprechen muss. In vielen Berufen wird mittlerweile erwartet, dass wir schon im vorauseilenden Gehorsam tun, was die Firma von uns erwartet. Das unterscheidet uns von Arbeitern früherer Generationen, die faul wurden, wenn ihnen keiner zusah, und die nur auf Anweisung arbeiteten. Wir sind heute in der Lage, uns selbst zu regulieren. Einerseits ist dies wichtig und nützlich. Andererseits sollten wir uns immer überlegen, in wessen Dienst wir diese Fähigkeit stellen und sie nicht unkontrolliert auf jede Anforderung anwenden, mit der wir konfrontiert werden.
Hierarchie, Befehl und Gehorsam sind das Gegenteil von Verantwortlichkeit. Schon daraus wird ersichtlich, dass ein Herrschaftsverhältnis nicht das Optimale für den hinreichend gebildeten und entwickelten Menschen und zur Erreichung gesellschaftsübergreifender Ziele ist. Die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung auf den unteren Ebenen wird dadurch nicht genutzt, und dieses Potential geht verloren. Der Gehorchende führt aus, ohne dass er den Befehl zu hinterfragen hat. Er soll als intelligente Maschine agieren. Von einer Maschine erwarten wir, dass sie das Leben ihres Eigentümers verbessert. Das zeigt das Verhältnis von Befehlendem zu Gehorchendem. Ein Befehl ist das Gegenteil von Freiheit, weil er die persönliche Freiheit des Empfängers negiert. Es geht nicht um die Bedürfnisse des Gehorchenden, sondern um die des Befehlenden. Wird dieses Prinzip in Unternehmen angewendet, so geschieht dies meist nicht so eindeutig – es gibt Kompromisse, aber die Tendenz ist offensichtlich. Es geht bei Befehlen immer darum, dass das Gehorchen dem Befehlenden oder seinen Zielen mehr nützt als dem Gehorchenden. Will man Ziele erreichen, die der Gesamtheit der Menschen oder der Welt nützen, so benötigt man das Gegenteil: Keine Befehlenden und Gehorchenden, sondern eigenverantwortlich handelnde Menschen.
Jede hierarchische Struktur bedeutet, dass höhere Positionen mit mehr Macht ausgestattet sind als niedere. Macht verzerrt jedoch die Entscheidungsfindung. Die Entscheidung wird durch den „Entscheider“ dominiert in der Annahme, dass dieser mehr Erfahrung, Wissen oder Entscheidungsqualität liefert als die Gemeinschaft. Dies hat sicher im neunzehnten Jahrhundert für einen gebildeten Chef gegenüber seinen ungelernten Arbeitern gegolten, aber es gilt heute erheblich weniger, seit wir eine flächendeckende Bildung und eine höhere durchschnittliche Reife erreicht haben. Fähigkeiten heutiger Menschen wie selbständiges Handeln und eigenverantwortliches Denken waren für die Arbeiter in einer hierarchischen Welt wie im neunzehnten Jahrhundert unnütz, solange sie nur monotone körperliche Tätigkeiten verrichten mussten. Trotzdem stellt die damalige hierarchische Struktur eine große Ungleichheit auch der Chancen dar. Sie fördert Ausbeutung und stellt langfristig nicht die optimale Konstellation zur Erreichung von Fortschritt dar. Vielleicht musste die Menschheit diese Zwischenstufe durchlaufen, und vielleicht konnten wir uns als Menschheit nicht mit weniger Verlusten entwickeln. Aus heutiger Sicht ist dies eine Vergangenheit, die nie wiederkehren muss und sollte. Menschen als mechanische Arbeitskräfte sind heute nur noch in sehr wenigen Bereichen unersetzbar, seit Maschinen viele unserer Tätigkeiten übernehmen können. Je schneller wir eine flächendeckende Bildung aller Menschen erreichen, desto leichter und erfolgreicher werden wir uns weiterentwickeln.
Wir sind auf dem Weg von einer auf Befehlen aufgebauten Arbeitswelt hin zu eigenverantwortlichem Arbeiten. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstregulation und zum verantwortungsvollen Handeln im Sinne der Allgemeinheit, was eine entsprechend verinnerlichte Erkenntnis der Notwendigkeit von solchem Verhalten voraussetzt. Denkt man die bisherige Entwicklung von der Schamkultur zur Schuldkultur weiter, so liegt die Zukunft in der Erkenntnis: Wenn wir uns aufgrund unserer Erkenntnis und des daraus resultierenden Wollens selbst regulieren, benötigen wird weder Scham noch Schuldgefühle zur Kontrolle unseres Zusammenlebens. Andere nennen das Anarchie – in der richtigen Bedeutung des Wortes: als ein Zusammenleben, das keine Führung benötigt.
Macht tendiert zu Machtausweitung
Meist versuchen Mächtige, noch mehr Macht anzuhäufen. Geschichten von Unternehmern, Investoren oder Politikern, die freiwillig an einem bestimmten Punkt aufhörten und sich zurückzogen, sind selten. Allein die Zahl der Millionäre und Milliardäre in Deutschland (1,2 Millionen) und der Welt zeigt das. Viele, die einmal damit angefangen haben, Vermögen und Macht anzuhäufen, hören nicht mehr damit auf. Wären sie nur durch den Wunsch nach materieller Sicherheit oder beispielsweise einer Yacht motiviert, so würden sie nach Erfüllung dieser Wünsche ihr Bemühen einstellen oder reduzieren, anstatt weiteres Vermögen anzuhäufen
Wer Macht hat, hat oft nicht nur den Wunsch, sie auszubauen, sondern fast immer auch die Möglichkeit dazu. Alle „Großen“ sind in der Lage, die „Kleinen“ zu dominieren und sich finanzielle Vorteile zu verschaffen – egal ob es sich um Firmen, „Investoren“ oder Länder handelt. Das zeigt sich an der Macht von Staaten (USA, China, Russland, demnächst möglicherweise Indien), Staatenbündnissen (EU, NATO, OPEC), Konzernen (Goldman Sachs, die „Investment“-Banken, Facebook, Google, Ebay, Amazon, Apple, Ikea, Nestlé, Unilever usw.), Superreichen (Ölscheichs, Familien-„Investoren“, Milliardäre). Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Anhäufungen von Macht in den einigermaßen stabilen Regionen der Welt beständig gewachsen und verfolgen überwiegend ihre eigenen Ziele.
Viele große Firmen transferieren ihre Gewinne in Steueroasen – unabhängig von der Qualität ihrer Produkte oder ihrer Haltung in moralischen Fragen. Der Grund dafür ist, dass es in ihrer Macht liegt – während der Normalbürger nicht über die Macht verfügt, Geld steuerfrei zu verdienen, obwohl wir das alle gern tun würden. Die Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Firmen ist hierbei nicht mehr sinnvoll. Viele Unternehmen verfolgen zum Teil wünschenswerte Ziele und handeln an anderen Stellen