Wenn wir eindeutig überlegen sind und mit dem Angriff kein Risiko eingehen, greifen wir früher oder später immer zu Gewalt.100 Leopold Kohr hat in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, dass zu der Möglichkeit noch die Motivation gehört, sonst müsste ich den ganzen Tag Ameisen zertretend durch die Stadt laufen. Ein gewisses Aggressionspotential, der Wunsch, sich abzureagieren, oder der Wunsch, sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen, begünstigen Machtmissbrauch. Ohne Handlungsmotivation führt Macht höchstens zu Schäden aus Unachtsamkeit. Allerdings tragen viele Menschen der heutigen Zeit eine innere Leere in sich (siehe Kapitel 2.4), die sie nach persönlichen Vorteilen streben lässt, und haben genügend aufgestaute Wut in sich, was eine starke Motivation zum Streben nach Macht und zu ihrer Ausübung darstellt.
Hohe Bevölkerungsdichte und viele Begegnungen mit Fremden erhöhen unsere Aggressivität und führen dadurch zu Veränderungen – aber auf verschleißträchtige Weise: durch Wettbewerb, Selektion von Unternehmen und Mitarbeitern, unter Stress, im ständigen Kampf um die vordersten Plätze – eben so, wie es die Verfechter unseres Wirtschaftssystems häufig propagieren. Die in vielen Firmenleitbildern beschriebene offene Kommunikation und vertrauensvolle Zusammenarbeit werden meist nur auf den untersten Ebenen gelebt. Auf der Stufe der Abteilungsleiter und darüber besteht ein großer Teil des Handelns in den meisten Unternehmen aus Intrigen, Machtspielen und „politischen Entscheidungen“. Die Medien sprechen von den Leitungsebenen großer Unternehmen als „Haifischbecken“. Führungskräfte sind meist davon überzeugt, die wahren Leistungsträger zu sein, ohne die nichts läuft. Sie verwenden einen Teil ihrer Arbeitszeit auf Ränkespiele und Strategien für ihren weiteren Aufstieg. Von ihnen geht ein hohes Maß an Aggressivität sowie sozialer und wirtschaftlicher Zerstörung aus.
Nicht alle Menschen streben nach Macht. Unsere Manager und Politiker rekrutieren sich aus dem kleinen Teil der Bevölkerung, der nach oben will. Wer wirklich Macht will, sucht sein Leben lang nach Mitteln und Wegen, sie zu erlangen. Und er wird dabei entdecken, dass Vernetzung mit anderen nach Macht strebenden Menschen von Vorteil ist, dass die Botschaft wichtiger ist als die Handlung und dass man besser nichts tut, als Fehler zu machen. Normalbürger entdecken das ebenso, aber sie richten ihr Handeln nicht danach aus, weil es für sie nicht bedeutend genug ist oder weil ihr Streben auf ein anderes Ziel gerichtet ist. Es gibt eine große Zahl von Menschen, die beobachtet haben, dass man z. B. mit Seilschaften und Intrigen nach oben kommen kann. Sie nutzen diese Möglichkeiten aber nicht, weil sie einfach kein Interesse am Aufstieg haben, weil ihnen ein solches Verhalten zu unmoralisch ist, weil sie sich andere Ziele gesetzt haben oder Ihnen andere notwendige Eigenschaften für eine Karriere fehlen. Es benötigt eine bestimmte Haltung, um nach oben zu kommen. Emotionslosigkeit, Ignoranz, Kaltschnäuzigkeit, Moralfreiheit und ein Hang zu Intrigen sind vorteilhaft für eine Karriere.
Das Problem besteht nicht darin, dass Leute nach oben streben, weil sie denken, dass sie dort am besten ihre Fähigkeiten einbringen können. Viele wollen deshalb in hohe Positionen, weil sie einen starken Geltungsdrang haben. Dies sollte uns suspekt sein, da sie dabei sehr persönliche Motive verfolgen und der mögliche Nutzen für den Arbeitgeber oder die Allgemeinheit fragwürdig ist. Man sollte solche Eigenschaften wie den Willen zur Macht bei der Besetzung einer hohen Position negativ bewerten, nicht positiv. Wir würden nie bewusst Terroristen mit Sprengstoff versorgen und Menschen ohne Fluglizenz Linienflugzeuge fliegen lassen. Aber in Unternehmen und Politik lassen wir auch Menschen an die Schaltstellen der Macht, die die nötige moralische Eignung nicht nachgewiesen haben.
Ich denke, jeder Mensch kann in Überheblichkeit oder Depression verfallen. Läuft es gerade gut und einem gelingt alles, stellt sich manchmal ein Moment ein, in dem man denkt: Eigentlich kann ich doch alles, was ich können muss. So liegt mir die Welt zu Füßen. Was sollte ich sonst noch brauchen? Und in besonders schlechten Momenten ist man am Boden zerstört, weil nichts gelingt, keine Hoffnung besteht und man an seinen Fähigkeiten zweifelt. Jeder Mensch bewegt sich irgendwo zwischen diesen Zuständen. Und beide Zustände sind schädlich, wenn man zu tief oder zu lange hineinrutscht – der „negative“ nur für den Einzelnen, der „positive“ auch für die Umgebung. Wenn Menschen in einer natürlichen Gruppe zusammenlebten, wird das Gemeinschaftsgefühl immer seinen Teil dazu beigetragen haben, dass der Einzelne nicht in solchen Gefühlen versank. Aber in unserer heutigen Gesellschaft gibt es Situationen, in denen Einzelne lange Zeit in dem Gefühl der Selbstherrlichkeit baden können, zum Beispiel wenn sie Firmenlenker, Hollywoodstars, Musiker oder finanziell erfolgreich sind. Dann bekommt die Neigung zur Selbstherrlichkeit über lange Zeit Futter, und die Wahrscheinlichkeit wächst, dass diese zerstörerisch wirkt. Wir alle kennen Geschichten von berühmten Persönlichkeiten, die im Umgang mit anderen Menschen unerträglich waren.
Interessant finde ich die Beispiele aus Romanen, in denen die Autoren ihre Protagonisten entsprechend dieser Erkenntnis der Bedeutung und Folgen von Macht handeln lassen: J. R. R. Tolkien behauptet indirekt in Der Herr der Ringe, Macht an sich sei schlecht, denn es gibt in dieser Geschichte keinen guten Zauberring. Das erklärte Ziel der Handlung ist es, die Macht des obersten Ringes und damit aller Ringe zu vernichten, um die diktatorische Herrschaft einzelner über den Rest zu beenden. Auch Harry Potter zerbricht am Ende des letzten Filmes der Reihe den mächtigsten Zauberstab, den Elderstab, obwohl er mit diesem Zauberstab unbesiegbar wäre. Die letzte Szene des Films zeigt eine friedliche Zukunft der Protagonisten.
Die vorgenannten Zusammenhänge stellen in meinen Augen klar, dass es viele Mechanismen gibt die dafür sorgen, dass Machtanhäufung auch zu Machtmissbrauch führt. Die wenigen Gegenkräfte sind unterlegen. Eine Gegenkraft ist die Beziehung zwischen Menschen, die Mitgefühl und wechselseitiges Verständnis mit sich bringt. Genau diese persönlichen Beziehungen sind seit der neolithischen Revolution weniger geworden, als wir eine Gesellschaft erschufen und das Leben in Kleingruppen seltener wurde, und in einem zweiten Schritt mit der Industrialisierung, die die Massengesellschaft mit sich brachte.
Der „Will to Power“ passt einfach nicht mehr in unsere Zeit. In früheren Zeiten waren wir nicht hoch genug entwickelt, um Machtanhäufungen zu vermeiden, und vielleicht gab es auch Situationen, in denen die Führung von Ungebildeten durch einen Gebildeten sinnvoll war – vor allem, als es noch eine größere Zahl von Menschen gab, die überwiegend ihren Eingebungen und Trieben folgten und ihr Handeln kaum bewusst kontrollieren konnten. In der heutigen Zeit brauchen wir jedoch altruistische, kommunikative Menschen, die unseren Entwicklungsprozess gemeinsam und auf Augenhöhe vorantreiben.
Es wird Zeit, dass wir dies erkennen und den Machtgeilen diese Jobs verweigern, so wie wir auch in anderen Bereichen durch demokratische Prozesse die für die jeweiligen Tätigkeiten Ungeeigneten zum Schutz aller davon ausschließen. Wer mehrmals betrunken Auto gefahren ist und dabei erwischt wurde, muss den Führerschein abgeben. Wer mehrfach Firmen ausgebeutet hat oder in den Konkurs geführt hat, darf einfach weitermachen, obwohl der Schaden ungleich größer sein kann und die Gegenwart zeigt, dass der Markt dies nicht von selbst regelt. Auch für diese Fälle könnten auf demokratischem Weg Gesetze erlassen werden, die den Entscheidern mehr Verantwortung für ihr Handeln auferlegen.
Je größer das Machtgefälle, desto tragischer die Auswirkungen
Beispiele für die Folgen großer Machtungleichheit sind Vergewaltigungen in Kriegen, die Folterungen an KZ-Insassen im Dritten Reich, gezielte Quälereien von Tieren in Schlachthöfen101 oder, wenn Kinder Frösche aufblasen.
Es gibt viele Berichte über Folterungen von KZ-Insassen, die z. B. mit medizinischen Experimenten begründet wurden, und es gibt Berichte über willkürliche Quälereien aus dem Affekt heraus. Menschen wurden psychisch und körperlich gequält und zu unnützen Arbeiten gezwungen. Die große Machtdifferenz zwischen Insassen und Aufsehern in den KZs beinhaltete, dass Quälereien nicht mehr durch Sanktionen bedroht waren – ein Fehlverhalten der Aufseher gegenüber den Insassen im Sinne der Gesetzgebung war nicht mehr möglich. Das schuf die Möglichkeit, alle moralischen Grenzen zu überschreiten.
In Irland gab es bis zum Ende des zwanzigsten