Okay, ein Kuhrevier.
Zwischen den Dicken war es wenigstens in der Nacht warm! Ich versuchte meine gute Laune nicht zu verlieren. Als sich jedoch ein brauner Knallkopf in meine Richtung aufmachte und schweren Schrittes auf mich stampfte, versteinerte sich meine Miene. Die Krallen würden hier nichts nutzen, dessen war ich mir sicher, somit blies ich zum Rückzug.
Schnell hüpfte ich vom Holz, rollte mich im Schutz der hohen Wiese ein, steckte meinen Kopf unter meine Pfoten und presste zur Sicherheit noch zusätzlich meine Augenlider ganz fest zusammen. Freilich hatte das clevere Rindvieh meine List durchschaut. Es roch an meinem Hinterteil. Erschrocken hüpfte ich hoch, setzte schnell mein freundlichstes Lächeln auf und sprintete los. Ich hörte noch, wie die blöde Kuh mir laut und hysterisch hinterherbrüllte.
Wahrscheinlich holte der Angsthase jetzt noch den ganzen Stall zu Hilfe. Tatsächlich! Plötzlich grölte die Herde hinter mir her. Auf meiner Flucht legte ich vorsichtshalber lieber den vierten Gang ein. So zischte ich wie eine Granate aus der Gefahrenzone hinaus.
Nach einem anstrengenden, aber siegreichen Sprint entdeckte ich am Ende der Wiese eine große Scheune. Die Türe stand einladend offen. Es sprach nichts dagegen, einen Blick zu riskieren.
Super, der Schuppen war vollgefüllt mit kuscheligem Stroh!
Ich verschaffte mir einen Überblick. Da sich keine Dickhäuter oder andere beängstigende Lebewesen in meinem Sichtfeld befanden, hüpfte ich schwuppdiwupp ins getrocknete Gras und verkroch mich darunter. Extrem erholungsbedürftig von den Aufregungen des Tages begab ich mich zur Nachtruhe. Ich wollte meine Batterien für den nächsten Tag wieder aufladen. Nach einer kurzen hektischen Katzenwäsche verließ ich beim ersten Hahnenschrei voller Tatendrang meine Schlafstätte und zog abenteuerlustig weiter. Überglücklich, den Wind in meinen Nackenhaaren zu spüren, streunte ich ausgelassen über die Weite der Felder und durchkämmte die dunklen Wälder. Ich spürte einen Hauch der Freiheit. Interessiert am andersartigen tierischen Wandervolk traf ich zuerst auf ein Pläuschchen den schlauen Fuchs. Dann den bei meinem Anblick aufgeregt am Boden klopfenden Meister Lampe. Und ich lernte mich vor den scharfen Pranken des Marders zu fürchten.
Sorgenfrei schritt ich weiter. Nach Wochen meiner durchaus vergnüglichen Wanderschaft schlug mir aber die Realität mit voller Härte ins Gesicht. Es wurde bitterkalt. Der Himmel trübte sich. Es begann zu schneien. Gegen die ersten Schneeflocken, die vom Himmel fielen, hatte ich noch nichts einzuwenden. Amüsiert hüpfte ich der weißen Pracht hinterher. Doch es schneite unaufhörlich und bald wurde jeder meiner Schritte zu einem strapaziösen Kraftakt. Ich versank im weißen Pulver. Keinesfalls wollte ich aufgeben. Ich mobilisierte all meine Kräfte und stapfte bei meiner verzweifelten Suche nach Nahrung einfach aufs Geradewohl immer weiter durch die Schneelandschaft. Aber ich fand nichts. Die schlauen Vögel waren bereits in die Wärme des Südens geflogen und selbst die sonst etwas doofen Mäuse verweigerten mittlerweile einen Blick aus ihrem geheizten Erdreich in die kalte Wirklichkeit. Hoffnungslos musste selbst ich erkennen – und dabei gebe ich nie auf – dass es keine Aussicht auf eine Mahlzeit mehr geben würde. Ich ging zu Plan B über, zu meinem Notfallplan: Raus aus der Eiszeit und rein in die Warmzeit. Bestätigung für meine gefällte Entscheidung fand ich in der ersten Grundregel meiner Mutter: Mache nichts selbst, was nicht auch ein Mensch für dich tun könnte!
Schnell passte ich diese klare Ansage an mein Bedürfnis nach Futter an.
Wo Menschen sind, musste auch Nahrung sein.
Das ist Fakt.
Warum noch länger vergeblich weitersuchen, wenn ich die Menschen doch einfach höflich bitten konnte, mir etwas von ihrem Kuchen abzugeben?
Ich änderte meine Route und begab mich auf die Suche nach zweibeiniger Gesellschaft.
Doch meine bisherige Reise hatte mich so tief in die Wildnis geführt, dass ich einsam meinen endlos scheinenden Überlebenskampf austragen musste. Auch die Kollegen Fuchs und Hase hatten sich bereits in ihr warmes Winterdomizil zurückgezogen.
Eines Abends mit Einbruch der Dunkelheit, gerade als ich meinen ausgelaugten Körper in einem schneefreien Erdloch zusammenkauern wollte, sah ich plötzlich Licht.
Zuerst dachte ich noch an eine Sinnestäuschung, dann an das letzte Aufflackern meiner Sicherungen im Kopf.
Als ich vorsichtig zu dem Schein schlich und es immer heller wurde, strahlte er mir mitten ins Gesicht. Nur eine Straße trennte mich noch von dem hell erleuchteten Areal. Diese galt es nun zu bezwingen. Wie es mir in der dritten Grundregel beigebracht worden war – niemals mein Leben leichtfertig aufs Spiel zu setzen – und weil ich mich auch für eine übereilte Kamikazeaktion noch viel zu jung hielt, bezog ich zuerst einmal Stellung am Straßenrand. Ich musste der Gefahr ins Auge blicken, um sie richtig abschätzen zu können.
Ich begann das Fahrverhalten der vorbeirasenden und der kurz anhaltenden Autos zu studieren.
Man musste keine besondere Leuchte sein, um zu erkennen, dass das Erreichen meines Ziels von einem grün- oder rotleuchtenden Licht abhing. Bei Grün blies der Fahrtwind mir von allen Seiten mitten ins Fell. Somit: no chance. Einzig und allein bei Rot lag meine Möglichkeit. Die erste Spur war frei und auf der zweiten kamen die Autos zum Stillstand. In diesem kurzen Moment der Ruhe sah ich, wie die auf der Rückbank sitzenden Kinder ihre Nase an der Seitenscheibe platt drückten und mich mit weit aufgerissenen Augen ängstlich anstarrten. In der Hoffnung, die Familienkutsche würde am Fahrbahnrand stoppen und die Kids würden zu mir herüberkommen, um mich aufzulesen, wollte ich noch schnell ein paar nette Kunststücke zeigen. Zu spät. Da brausten sie schon wieder los. Die an der Heckscheibe klebenden kleinen Gesichter verschwanden in der Dunkelheit.
Enttäuscht wandte ich mich wieder meinem Ursprungsplan zu. Ich wollte den beleuchteten Ort erreichen. Ich vergaß die Halbwüchsigen und konzentrierte mich wieder vollends auf die zeitliche Abfolge der Farben. Das mir für einen sicheren Sprint über die Straße zur Verfügung stehende notwendige Zeitfenster bei rotem Leuchten erschien mir zwar äußerst kurz, aber dennoch machbar.
Selbst ist die Frau!
Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und machte mich zum Absprung bereit. Die Signalfarbe kam.
Tschakka, du schaffst es!
Hektisch flitzte ich über die erste freie Spur. Stopp. Ein weißer Lieferwagen saust an mir vorbei, bevor er in der Kolonne zum Stillstand kam. Ich machte einen gestressten Hacken nach rechts, im Wettlauf mit der Geschwindigkeit des herannahenden silbernen Sterne-Autos sprintete ich zwischen der Hecktür eines Lastkraftwagens und der Motorhaube eines Mercedes hindurch.
Ja! Geschafft!
Gerade noch rechtzeitig.
Hinter mir brausten mit vollem Tempo die Vierräder die Straße auf und ab.
Voll durchgedreht fegte ich, auf der anderen Straßenseite angekommen, im Zickzacklauf an Menschenbeinen vorbei, bevor ich unter einen mir sicher scheinenden, parkenden Kleinwagen hetzte, um mir eine Verschnaufpause zu gönnen. Diese hatte ich bitter nötig. Doch wer rastet, der rostet.
Die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit drängte. Denn sollte sich das Blatt für mich heute noch zum Positiven – zu einem vollen Magen – wenden, musste schnell was geschehen.
Ich robbte bis zum Auspuffrohr vor, um meine Lage besser sondieren zu können. Juhu!
Viele Menschen bedeuteten viel Nahrung. Doch als ich näher hinsah und vor allem hinhörte, schwand meine Chance, jemals wieder gesund und munter meinen Unterschlupf verlassen zu können.
Die Frequenz am Areal, bedingt durch das ständige Ein- und Ausfahren der Karossen, stellte eine riesige Gefahr für mich dar. Selbst wenn ich es schaffen würde, in die Nähe einer vermeintlich netten Person zu kommen, würde mich diese wahrscheinlich niemals hören. Der hohe Lärmpegel, kombiniert mit meiner nicht gerade ausgeprägten Miau-Schrei-Bega-bung, würde mich mit Sicherheit alt aussehen lassen. Mutlos kroch ich von meinem Aussichtsplatz wieder