Ich kam als Einzelkind zur Welt.
Der Hausherr musterte mich eindringlich und beschloss, mich, wenn ich die nötige Größe hätte, im Tierheim abzugeben. Anscheinend konnte er nichts Besonderes an mir entdecken.
Meine Mama hatte aber etwas anderes geplant.
Sie begann mich zu lehren und zu trainieren.
Für meine Mama, die aufgrund ihrer Anmut viele Pokale gewann, galt keinesfalls die Binsenweisheit, schön zu sein bedeute automatisch auch dumm zu sein. Sie war sehr intelligent und hatte mir schon von Kindesbeinen an die drei wichtigsten Grundregeln des Lebens beigebracht:
Mache nichts selbst, was nicht auch ein Mensch für dich tun könnte.
Schließe nie zu schnell eine Freundschaft mit Menschen, denn dein Vertrauen müssen sie sich erst langsam verdienen.
Setze niemals eines deiner sieben Leben leichtfertig aufs Spiel.
Mama lehrte mich wie Inspektor Columbo zu denken, zu fühlen und zu handeln. Sei immer wachsam und prüfe eindringlich eine fremde Umgebung, bevor du diese leichtfertig beschreitest. Erkennst du eine Bedrohung, dann handle niemals übereilt, sondern immer kontrolliert. Entweder gehst du, der Gefahr ins Auge blickend, mit geschärften Krallen in die Konfrontation oder du ziehst dich – da du das Risiko im Vorfeld abgeschätzt hast – selbstbewusst zurück. In beiden Fällen gehst du als Gewinner vom Feld.
Ich versuchte mir alles einzuprägen.
Nichts, aber auch wirklich nichts darf für eine Katze ein Hindernis sein, predigte meine Mama. Obwohl meine Beinchen noch so klein und kraftlos waren, motivierte sie mich unermüdlich, ihr als Parcoursläuferin bis auf den höchsten Punkt im Raum zu folgen. Folgsam sprang ich ihr auf meinen wackeligen Pfoten in schwindelnde Höhen hinterher.
Doch bei all den Strapazen, die sie von mir abverlangte, sparte sie niemals mit Erklärungen:
»Ganz oben ist es nicht nur am sichersten für dich, hier hast du auch den besten Gesamtüberblick über alles, was in deiner Umgebung geschieht.«
Hechelnd, aber ihren Ratschlag beherzigend, blickte ich meine Mama an. Doch sie gab mir keine Zeit zu pausieren. Ich musste schon wieder hinter ihr her und den beschwerlichen Abstieg in Angriff nehmen.
Abends, zur Schlafenszeit, wurde unsere Zimmertür ins Schloss gezogen. Das beeindruckte meine Lehrmeisterin nicht, vielmehr sah sie darin eine neue Lernaufgabe für mich. Gelassen setzte sich meine Mama vor die geschlossene Pforte und wartete erstmal in aller Seelenruhe ab, bis es in der Wohnung mucksmäuschenstill geworden war.
Dann plötzlich visierte sie den Türgriff an. Sie setzte an, sprang und drückte im Flug mit Leichtigkeit den Griff nach unten. Ihr Zielobjekt öffnete sich und schon spazierten wir auf leisen Sohlen los. Ihr scheinbar kinderleichtes Türprojekt wurde schließlich zu meiner Abendgymnastik.
»Ein geschlossener Zugang darf für uns Katzen kein Problem darstellen«, ermahnte sie mich immer wieder zum Training.
Ich versuchte es unermüdlich. Doch entweder waren meine Beine zu kurz, zu schwach oder vielleicht auch nur der dämliche Türgriff zu hoch. Jedenfalls schaffte ich es nicht, die doofe Klinke nach unten zu drücken.
Etwas enttäuscht über meine nicht vorhandene Begabung wurde unser Unterricht auf den Tag verlegt. Meine Mama lehrte mich nun eine etwas abgewandelte Form des Türöffnens:
»Stecke deine rechte Pfote in den Türspalt, ziehe oder stoße dann – je nachdem, in welche Richtung sich die Türe öffnet - diese schwungvoll auf, schiebe anschließend schnell deinen Kopf hinterher - und schon bist du durch!«
Das war total easy cheesy.
Ich lernte es im Pfotenumdrehen.
Wenn Besuch für meine Mama antrabte, mussten unsere Ausbildungszeiten ärgerlicherweise immer wieder unterbrochen werden. Besuch kam fast täglich und blieb noch dazu für mehrere Stunden. Der für sie auserwählte blaufarbige Zuchtkater kannte nämlich kein Nachhausegehen. Immer wieder störte der Lüstling unsere traute Zweisamkeit mit seinem aufdringlichen Getue, Gesitze und Schauen.
Blöderweise dachte er, dass der Weg zur Mutter über die Tochter führen würde. Ständig war er deshalb mit seinem Riechorgan hinter mir her. Wie eine Bulldogge stellte sich aber meine Mama schützend vor mich, hob drohend ihre Pfote und zeigte ihm ihre gepflegten Krallen. Zugeschlagen hat sie nicht, aber der Trick mit der Pfote funktionierte. Beleidigt zog sich der Blaumann in die Ecke zurück. Zum Leidwesen meiner Mama schenkte er fortan nun ihr seine ganze Aufmerksamkeit. Sein penetrantes rolliges Verhalten löste bei ihr aber Unbehagen aus. Er durfte ihr weder zu nahekommen, noch schenkte sie ihm einen zärtlichen Blick. Er konnte in ihrem Herzen kein Feuer entfachen. Dieses brannte ja bereits lichterloh für meinen Vater.
Mein Vater war ein wilder, ungebändigter Freigeist mit vor Energie strahlenden, lebensbejahenden Augen. Jeden Morgen pünktlich um sechs Uhr datete er meine Mama vor unserem Zimmerfenster.
Er hockte im Wipfel des gegenüberliegenden Baumes und kletterte erst wieder zufrieden herunter, wenn ihm seine Lilly ein verzücktes Hallo durch die Scheibe gehaucht hatte. Jeden Sonnenaufgang zeigte er mir mit seinem Frohsinn ein Stückchen mehr von seiner großen Welt. Immer mehr beneidete ich ihn um sein freies Leben. Traurig blickte ich ihm hinterher, wenn er glücklich seine Hüfte schwingend hinter einem der Wohnblöcke verschwand.
Mit nicht mal vier Monaten spürte ich, dass meine Zeit für Veränderungen gekommen war. Ich beschloss die Wohnungstür - mein Tor in die Weite der Welt oder in die Enge des Tierheimes - aufmerksamer zu beobachten. Tagelang legte ich mich auf die Lauer, um den Aufgeh- und Schließrhythmus der Menschen zu studieren.
»Eine Tür ist kein Hindernis. Nein! Sie darf kein Problem für uns Katzen sein.«
Das hatte mich meine Mama in weiser Vorahnung gelehrt.
Ich wartete geduldig auf meine Chance zur Flucht.
An einem Sonntagmorgen im Spätherbst war der Zeitpunkt endlich da. Ausdauernd und hingebungsvoll leckte mir meine Mama sanft über mein Fell und strahlte mich dabei liebevoll an. Nach Beendigung der Morgenwäsche nahm sie mich plötzlich zur Seite und flüsterte mir in mein gespitztes Ohr:
»Ich bin mir sicher, dass deine Zeit nun gekommen ist, um der großen Welt zu zeigen, wer du bist und was in dir steckt. Sei heute besonders wachsam. Nutze deine Chance. Öffne die Tür, wie du es gelernt hast, und renne schnell, ohne dich umzudrehen. Lebe dein Leben!«
Ich wusste sofort, was sie meinte.
Ein Model-Wettbewerb stand auf dem Programm. Nur an einem solchen Tag wurde Fort Knox im Minutentakt geöffnet. Es wurden große und kleine Taschen, bunte und einfarbige Decken, geflochtene und gewebte Körbe – einfach jeglicher Krimskrams – ins Auto getragen.
Ich wartete stundenlang. Zur Mittagszeit war meine Chance endlich da. Der Herr des Hauses kam schnaufend von einem Autotransport zurück, zog die Tür nicht ins Schloss und hetzte eiligen Schrittes auf das Wohnzimmer zu, um neue Sachen zu holen. Meine Mama und ich saßen gerade auf der Kommode im Vorraum. Ein paar Pfotenlängen vom geöffneten Ausgang entfernt. Als der Hausherr schwitzend an uns vorbeihuschte, senkten wir zeitgleich ganz unschuldig unsere Köpfe. Als er endlich außer Sichtweite war, blickte ich unsicher zu ihr hoch: »Jetzt?« Ihre Antwort kam prompt und eindeutig: »Lauf!«
Ohne Widerrede startete ich los, stürzte mich kopfüber von der Truhe und hetzte voller Panik auf die Tür zu. Ich machte diese eilig auf, drückte meinen Kopf nach und weg war ich.
Ich spürte Mamas Blicke im Nacken. Eine angenehm wohlige Wärme lief über meinen Rücken.
Ich lief, ohne mich umzudrehen.
Von der Zivilisation und meiner Geburtsstätte kilometerweit entfernt, brach ich erschöpft auf einer saftigen grünen Wiese hinter einem hohen Holzstapel zusammen. Nach einem Moment des Kräftesammelns kletterte ich vorsichtig an diesem Holz hoch.
So