Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ingrid Zellner
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Kashmir-Saga
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347155794
Скачать книгу
hast du den?«

      »Janveer dachte, ich könnte nach einer Stunde im Fitnessraum ruhig noch eine halbe Stunde durch das Gelände laufen, für die Kondition. Immer am Fluss entlang, und das Ufer ist in der Nähe von Najihas Haus mit Felsbrocken übersät. Deswegen sind meine Beine auch so zerschrammt. Mein Fehler – was muss ich auch über die eigenen Füße stolpern.«

      »Das heißt, mit dem eigentlichen Training zur Selbstverteidigung hat er noch gar nicht angefangen?«

      Sameera schnaubte. »Er findet, dafür bin ich noch lange nicht fit genug. Er hat gesagt, wenn ich nicht deutlich an Kraft und Ausdauer zulege, könnte ich mich bei den Übungen ernsthaft verletzen.«

      »Ich sag’s ja ungern, aber er hat recht.« Vikram küsste sie zart auf die bloße Schulter; Sameera fuhr zusammen und gab einen zutiefst frustrierten Laut von sich. »Oh – da etwa auch?«

      »Frag mich lieber, wo es nicht wehtut.«

      Vikram betrachtete die Spuren, die nur acht Tage konsequentes Training auf dem Körper seiner Frau hinterlassen hatten, und überlegte nicht zum ersten Mal, ob die Idee, die er da gehabt hatte, nicht doch ein wenig zu radikal gewesen war. Er hatte an jenem Abend nach ihrer Panikattacke auf dem Markt vorgeschlagen, dass Janveer Naseem – der immerhin mehrere Jahre in einer Spezialeinheit der indischen Armee gedient hatte – sie in Selbstverteidigung unterrichten sollte. Das beinhaltete, dass Sameera bis auf weiteres drei bis vier Stunden täglich in Najiha Kamaals Haus verbrachte, wo der ehemalige Elitesoldat sie in seinem kleinen Fitnessraum Übungen absolvieren ließ, die er extra für sie zusammenstellte. Mohan nahm sie immer mit – sehr zur Freude von Najihas kleiner Tochter Nour –, und wenn er nicht gerade gestillt werden musste, war er bei Nours Kindermädchen Farideh Ali Ferouz in den besten Händen.

      Sameera unterzog sich den ungewohnten Leibesübungen mit derselben Disziplin, mit der sie sich vor drei Jahren an die abwechselnde Arbeit als Traumatherapeutin und als Pflegemutter von Vikrams Schützlingen gewöhnt hatte. Denn wenn sie nach dem Training nach Hause zurückkam, warteten genau die mit ihren Bedürfnissen und Wünschen auf ihre ammi – was dafür sorgte, dass sie in den letzten Tagen beim gemeinsamen Abendessen mehrmals fast eingenickt war und noch vor Yussuf, Firouzé und Anjali im Bett lag.

      »Mal sehen, wie lange sie das durchhält«, hatte Zobeida zweifelnd angemerkt, die genau wie Vikram registrierte, wie kräftezehrend diese plötzliche Doppelbelastung war.

      »Es ist das, was sie will«, hatte Vikram erwidert, »und das, was sie offensichtlich braucht.«

      Trotzdem hatte er vorsichtig bei Janveer nachgehakt, der ihn jedoch mit einem Lächeln beruhigt hatte. »Machen Sie sich keinen Kopf, Sandeep sir. Ich kann ganz gut erkennen, wer es ernst meint – und auch, wer Mumm genug hat, durchzuhalten. Vielleicht dauert es ein paar Monate oder noch mehr, bis sie so weit ist, aber Ihre Frau meint es verdammt ernst, und genügend Mumm hat sie auch. Geben Sie ihr einfach Zeit… und ab und zu eine ordentliche Massage.«

      Vikram beschloss, diesen praktischen Ratschlag auf der Stelle zu befolgen. Mit dem Training im Umgang mit Waffen und allerlei anderen nützlichen Gegenständen, das er selbst übernehmen wollte, konnte er sowieso erst beginnen, wenn Sameera ein wenig abgehärtet war.

      Er nahm ein Fläschchen vom Nachttisch, das eine Mischung aus Mandel- und Pfefferminzöl enthielt – eine Mixtur, die die Haut nicht nur geschmeidig machte, sondern vor allem auch kühlte. Er verrieb eine ordentliche Portion davon auf seinen Handflächen und grub die Fingerspitzen in die verhärtete Muskulatur von Sameeras Schultern. Diesmal klang der Laut, den sie von sich gab, fast wie ein Schnurren.

      »Fühlt sich das gut an?« Seine Finger zogen ihr Rückgrat nach und kneteten gleichmäßig die Flanken.

      »Unfassbar gut. Wo hast du das gelernt?«

      »Hab ich mir selbst beigebracht – wie so manches.« Seine Hände wanderten wieder nach oben. Sie sparten sorgsam die schwarzblau verfärbte Stelle aus, fanden die schmerzhaften Knoten unter der ölglänzenden Haut und ließen sie langsam, aber sicher verschwinden. Sameera hatte den Kopf zur Seite gedreht. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht entspannt.

      »Wenn ich geahnt hätte, wie wunderbar du das kannst, dann hätte ich schon viel eher mit dem Training angefangen.« Sie lächelte leicht. »Und weißt du was?«

      »Nein, was denn?« Er strich über ihren Nacken, erneut über die Schultern und das Rückgrat entlang bis hinunter zu ihren Hinterbacken. Er liebte es, sie zu betrachten und zu berühren; ihre ruhige Anmut schlug ihn immer noch unfehlbar in ihren Bann. Die Jahre waren freundlich mit ihr umgegangen… weit freundlicher als die unter seinen Feinden, die es gewagt hatten, sie zu verletzen.

      »Im Moment schlafe ich nachts wie ein Stein. Keine Träume mehr. Seit acht Tagen nicht ein einziger«, sagte Sameera. In ihrer Stimme schwang stiller Triumph mit.

      »Das ist sehr schön.«

      Seine Hände glitten wieder nach oben. Sameera stützte sich erst vorsichtig auf die Ellenbogen, dann drehte sie sich um, setzte sich auf und streifte mit den Lippen seine Handfläche. »Hmmm… das riecht sehr appetitlich. Wie die Minztoffees meiner irischen Großmutter.«

      Sie sah ihn an; ihre Augen spiegelten das weiche Licht der kleinen Nachttischlampe. »Wie klug von dir, dass du dich vor der Massage auch schon ausgezogen hast.«

      »Alles nur wegen dem Öl.« Er ließ sich auf der Matratze nieder. »Das gibt sonst Flecken auf der Kleidung, die nur ganz schwer wieder herausgehen.«

      Sameera beugte sich vor und küsste ihn, gemächlich und voller Genuss. Es war, als würde sie ein glosendes Feuer entzünden, das erst leise zu flackern begann und dann Zentimeter für Zentimeter seines Körpers aufflammen ließ, vom Kopf bis zu den Füßen.

      Er legte vorsichtig die Arme um sie und zog sie auf seinen Schoß. »Glaubst du, wir können…«

      »Aber sicher können wir. Mohan ist gestillt und gewickelt, und er schläft schon seit einem Monat so gut wie durch. Wir haben einen rücksichtsvollen Sohn, muss ich sagen.«

      »Sehr rücksichtsvoll. Geradezu selbstlos.« Er vergrub das Gesicht an ihrem Hals und schmeckte die Süße der Mandeln und die ätherische Schärfe der Minze gleichermaßen auf der Zunge. Jetzt war es ihre Hand, die seine Flanken liebkoste, die über seine Hüften strich und seinen Bauch. Dann berührte sie die Haut, die sich über Härte und Hitze spannte, und er rang nach Luft. Ihre Finger umfassten ihn und geleiteten ihn sanft und kundig in ihre Wärme hinein.

      »Siehst du?«, flüsterte sie ihm atemlos ins Ohr, während sie begann, sich über ihm zu bewegen. »Auf diese… auf diese Weise musst du nicht einmal auf den dummen Bluterguss achtgeben.«

      Kapitel 2

       Unsterbliche Liebe

      Raja Sharma liebte Lonavala. Genauer gesagt das Ferienhaus, das sein Freund Madhav Rao sich vor ein paar Jahren in diesem kleinen Ort im Deccan-Gebirge gekauft hatte, gut sechzig Kilometer entfernt von dem nahe Pune gelegenen Shivapur, wo Raja mit seiner Familie lebte. Seit Madhav aus beruflichen Gründen von Pune nach Goa gezogen war und Raja zuvor großzügig den Zweitschlüssel für sein Domizil zur Verfügung gestellt hatte, verging kaum ein Wochenende, an dem nicht entweder Raja selbst oder einer seiner Söhne den Wagen mit Familie und Lebensmitteln vollpackte und hierherkam, um in der erfrischenden Bergluft ein paar erholsame Tage zu verbringen.

      Ein Lächeln umspielte Rajas Lippen, als er aus dem Fenster seines Schlafzimmers hinuntersah in den sonnenhellen, bunt blühenden Garten des Ferienhauses. Seine kleine Tochter Rani saß auf der steinernen Bank neben Sita und war offenbar gerade dabei, ihrer Mutter eifrig etwas in einem Buch zu erklären. Mittlerweile ging sie zur Schule und hatte es sich ganz eindeutig zur Aufgabe gemacht, ihre Eltern ausgiebig an all den spannenden Dingen teilhaben zu lassen, die man dort lernte.

      Er selbst hatte bereits einen arbeitsreichen Vormittag hinter sich – er hatte sich um die Auffüllung des Brennholzvorrats für die allseits beliebte Feuerschale gekümmert. Nun sehnte er sich nach einer Dusche. Also ging er ins Bad und begann, sich