Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ingrid Zellner
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Kashmir-Saga
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347155794
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Sohn sanft an sich drückte. Es wird niemals vorbei sein – zumindest nicht die Erinnerung daran.

      Die Erinnerung an den Tag Ende April, als sie, hochschwanger, Avan Gupta in die Hände fiel, dem ehemaligen Polizeichef von Srinagar… und an die Nacht, in der sie ihm in seinem Büro widerstandslos zu Willen sein musste, um sich selbst und ihr ungeborenes Kind zu retten – und dazu auch noch Raja Sharma, ihren besten Freund, den der korrupte Brigadier Gupta ebenfalls hatte festnehmen lassen und nun als Druckmittel in Geiselhaft hielt. Am Tag darauf hatte er Sameera zwar freigelassen, und eine Woche später war auch Raja wieder bei ihnen gewesen – doch was er und sie in ihrer Gefangenschaft erlebt hatten, das hatte tiefe Narben auf Körper und Seele hinterlassen.

      Zum Glück hatte Sameera Menschen, die sie liebte und mit denen sie über ihr Trauma reden konnte – ihren Mann Vikram, der für sie die Welt bedeutete, und ihre beiden Freunde Raja und Sita Sharma aus Maharashtra. Obwohl sie sich erst seit gut zwei Jahren kannten, genoss Raja ihr absolutes Vertrauen (Vikram hatte ihn sogar zu seinem Bruder erklärt), und seine Frau Sita war sowohl für sie selbst als auch für Vikram zu einer innig geliebten Schwester und Ratgeberin geworden. Doch trotz aller Unterstützung durch diese wunderbaren Menschen an ihrer Seite blieb der Weg aus Guptas Schatten heraus noch weit, jeder einzelne Schritt klein und anstrengend. Denn dieser Schatten war so lang wie grausam.

      Sie strich sich eine Strähne ihres dunklen, im Sonnenlicht kupferrot schimmernden Haares aus dem Gesicht. Wenigstens war Mohan am 19. Mai gesund zur Welt gekommen. Ein Hoffnungsschimmer, der seitdem ihr Leben wieder hell und schön machte. Trotz aller qualvollen Erinnerungen an die Tage der Finsternis im Frühjahr.

      Sie hob den Kopf und sah Vikram über die Wiese auf sich zukommen. Die Sonne schien ihm auf den Rücken und ließ sein Haar aufleuchten; im vergangenen halben Jahr war es – ebenso wie der sauber gestutzte Vollbart – stark ergraut, aber nach wie vor dicht und kräftig. Die Mähne eines alten Löwen. Ein intensives Gefühl der Erleichterung überflutete sie, und sie atmete unwillkürlich auf.

      Er setzte sich zu ihr, streichelte seinem Sohn über die Wange und nahm ihre Hand.

      »Fühlst du dich wohl, meri jaan?«, fragte er. »Du hast eben ein bisschen blass ausgesehen.«

      »Mir geht’s gut.« Sie drückte für einen Moment ihre Wange gegen seinen Handrücken. »In den nächsten Tagen wird das ganze Dar-as-Salam nach Äpfeln duften. Ich will Saft machen, und Apfelmus. Damit kommt Mohan besser zurecht, solange er noch keine Zähne hat… halt, mein kleiner Löwe, das gibst du mal besser mir!« Sie nahm dem Baby eine Apfelspalte aus der Hand und ignorierte seinen empörten Protest. »Worüber hast du denn mit Azad geredet?«

      »Über seine Albträume.« Vikram blickte über die Wiese hinweg zu Azad; inzwischen war Yussuf (zweifellos nach einem freundlichen »Anpfiff« von Alef) dazu übergegangen, mit Laub zu werfen anstatt mit Obst, und Sameera beti – beziehungsweise Ameera, wie inzwischen fast alle sie nannten – klaubte ihrem Bruder lachend ein paar Blätter aus den Haaren. »Er sagt, sie kommen jetzt nicht mehr ganz so häufig, und er sieht auch so aus, als ob er besser schläft als anfangs. Er vertraut mir; zum Glück habe ich mittlerweile einen ziemlich guten Draht zu ihm.«

      »Wundert dich das?« Sameera betrachtete ihn. »Er fühlt sich sicher bei dir. Und er liebt dich – zwei Dinge, die ich absolut nachvollziehen kann. Mir geht es nämlich genauso.«

      Vikram beugte sich rasch vor und küsste sie. »Vielen Dank. Übrigens – morgen kommt der Mann, der in Zukunft für die Sicherheit des Dar-as-Salam

      sorgen soll.«

      Sameera seufzte. Die Ereignisse des Frühjahrs hatten ihnen schmerzlich vor Augen geführt, wie verwundbar das Waisenhaus mitsamt seinen Bewohnern war, zumal wenn Vikram sich gerade nicht in Kashmir aufhielt (wie an jenem verhängnisvollen Tag ihrer Entführung durch Guptas Schergen). Najiha Kamaal, eine hochrangige Politikerin und gute Freundin der Sandeeps, hatte damals spontan ihren Leibwächter Janveer abgestellt, damit er in dieser Krisenzeit über das Dar-as-Salam wachte. Aber natürlich konnte das keine Dauerlösung sein, denn Najiha hatte mindestens ebenso viele Feinde wie Vikram und konnte nicht für immer auf den eigenen Schutz verzichten.

      Sameera verstand das voll und ganz; dennoch war sie traurig, denn sie hatte Janveer sehr gern, und die Kinder mochten ihn ebenfalls, was angesichts der Tatsache, dass er sich wochenlang fast ständig im Heim aufgehalten hatte, ausgesprochen wichtig war. Wie der Neuankömmling mit ihren Schützlingen auskam, würde man erst noch sehen müssen. Und wie Vikram und sie mit ihm zurechtkamen, ebenfalls.

      Sie griff nach Vikrams Hand.

      »Es ist vieles so ganz anders gelaufen, als wir es geplant hatten«, sagte sie. »Denk nur an Zeenaths Hochzeit!«

      Ihre älteste Pflegetochter hatte eigentlich schon vor zwei Monaten heiraten wollen. Nadim, der Sohn eines Hoteliers in Gulmarg, hatte sich im vergangenen Jahr zu Zeenaths freudiger Verwunderung Hals über Kopf in sie verliebt, während sie mit seinem Vater verhandelte, der ihre wunderschönen Stickereien in der Boutique seines Hotels verkaufte. Dass die beiden heiraten würden, war rasch beschlossene Sache gewesen, und das große Fest war für August geplant worden.

      Aber dann war Anfang Juli der junge Widerstandskämpfer Burhan Wani bei einem Encounter mit Polizei und Militär ums Leben gekommen. Als Resultat war die Unruhe, die in Kashmir ständig unter der Oberfläche schwelte, jäh aufgeflammt und hatte sich binnen weniger Tage wie ein Flächenbrand ausgebreitet. Die Bevölkerung war auf die Straße gegangen, das Militär hatte auf die Demonstranten geschossen und das wunderschöne Tal war über Wochen in einem Strudel der Gewalt versunken. Ausgangssperren wurden verhängt, Flugverbindungen zwischen Kashmir und den restlichen Provinzen Indiens fast komplett eingestellt. In diesem Chaos war an eine große Feier mit vielen Gästen nicht mehr zu denken gewesen… ganz zu schweigen davon, dass die Sharmas aus Maharashtra anreisten, um mitzufeiern.

      »Ich bin ja immer noch verblüfft darüber, wie schnell es dann am Ende doch gegangen ist«, sagte Vikram. »Nadims Familie muss wirklich sämtliche Pläne fertig in der Schublade gehabt haben, um nach der Aufhebung der allgemeinen Ausgangssperre sofort loslegen zu können. Innerhalb von nur einer Woche so ein Fest mitsamt einem ausgewachsenen Wazwan auf die Beine zu stellen, das muss man erst mal hinkriegen.«

      »Und das Allerbeste daran war«, sagte Sameera leise, »dass du dabei warst und die Hochzeit mitfeiern konntest, mera jaan

      Sie sah, wie ein Schatten sein Gesicht verdüsterte; er wusste ohne Zweifel ganz genau, woran sie in diesem Moment dachte. Am 2. Mai war ihr Peiniger Avan Gupta in einem ausgebrannten Flugzeughangar mit zerschmettertem Schädel aufgefunden worden. Wochenlang hatten die Behörden vergeblich nach dem Täter gesucht, bis die Aussage eines Mannes aus der Schreibstube der Polizeidirektion (der ironischerweise nie die Absicht gehabt hatte, Sameeras Mann zu belasten) Vikram ins Visier der Ermittler gerückt hatte. Man hatte ihn umgehend festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt, und wäre es nach Guptas Nachfolger Narendra Nikam gegangen, dann hätte er das Zentralgefängnis von Srinagar nie wieder verlassen – außer vielleicht mit den Füßen voraus.

      Angesichts dieser üblen Aussichten hatte Raja Sharma alle Vorsicht in den Wind geschlagen und war noch während der schlimmsten Unruhen nach Kashmir gereist, um seinen Freund und Bruder zu entlasten. Zwar wusste er (ebenso wie Sameera selbst) verdammt gut, dass es tatsächlich Vikram gewesen war, der in jenem Hangar Rache an Gupta genommen hatte – aber angesichts dessen, was der Brigadier ihm und Sameera angetan hatte, war Raja mit diesem Akt der Selbstjustiz von Anfang an absolut einverstanden gewesen. Und dass Vikram deswegen jetzt im Gefängnis verrotten sollte, kam für ihn schon zweimal nicht in Frage. Also hatte er kurzerhand ein wasserdichtes Alibi für Vikram konstruiert und dieses vor der Staatsanwaltschaft zu Protokoll gegeben. Und da es dank Vikrams Umsichtigkeit keine stichhaltigen Beweise gegen ihn gab, war er schließlich vorerst gegen Kaution freigelassen worden. Seitdem musste er sich einmal pro Woche bei der Polizei melden und wartete ebenso wie Sameera sehnsüchtig auf den Tag, an dem die Ermittlungen gegen ihn endlich offiziell eingestellt wurden und er keine Kautionsauflagen mehr zu beachten brauchte.

      Bei der Erinnerung an die Tage des