»Ich schau nach ihr.« Vikram hatte sich bereits halb zum Gehen gewandt, als er die Thermoskanne sah, die auf dem Tisch stand. Azad erriet offensichtlich, was er dachte, denn er stand rasch auf, holte einen großen Keramikbecher aus dem Schrank und füllte ihn aus der Kanne mit Chai. Dann hielt er Vikram den Becher hin.
»Der tut ihr bestimmt gut«, sagte er. »Seit sie zuhause ist, wollte sie gar nichts haben.«
»Danke, mein Junge. – Ameera?«
»Ja, Vikram baba?«
»Ich bin sicher, es dauert nicht lange, aber trotzdem: Würdest du bitte Mohan wickeln und ins Bett legen, wenn er müde wird?«
»Gerne.« Ameera lächelte und tupfte seinem Sohn einen Kuss auf die Stirn. Einmal mehr stellte Vikram fest, dass die Siebzehnjährige immer hübscher wurde… und dass ihr ein Baby auf dem Arm ausgesprochen gut stand. Sie würde sicher in nicht allzu ferner Zukunft einen Mann sehr glücklich machen. Und er würde diesen Mann vorher sehr gründlich unter die Lupe nehmen – egal, wer es war.
Er ging hinaus, den Becher in den Händen und das kräftige Aroma von Kardamom, Zimt und Vanille in der Nase. Als er das Haus umrundet hatte und auf den Chenarbaum zusteuerte, sah er seine Frau auf der Bank neben der Feuerstelle sitzen. Sie trug immer noch den weinroten Salwar Kameez, in dem sie sich heute Morgen von ihm verabschiedet hatte. Er war kurzärmelig, und Ameera hatte recht gehabt: Jetzt, wo die Sonne fort war und den Rest des Sommers mit sich genommen hatte, wurde es rasch empfindlich kalt.
Sie musste mit den Gedanken sehr weit fort gewesen sein, denn sie bemerkte ihn erst, als er unmittelbar vor ihr stand.
»Hallo, Liebste«, sagte er sanft.
Sie sah ihn an. Ihre mandelförmigen Augen waren noch dunkler als sonst.
»Hallo, mera jaan«, antwortete sie leise. »Schön, dass du wieder da bist.«
»Ich hab dir was Warmes mitgebracht.« Er reichte ihr den Becher. »Um Himmels willen – du musst dir etwas überziehen! Deine Hände sind eisig.«
Sie nahm einen Schluck, seufzte und zog eine kleine Grimasse. »Danke, das tut gut. Und mach dir keine Gedanken über meine Hände. Wenigstens zittern sie jetzt nicht mehr.«
Vikram schlüpfte aus seiner alten Jeansjacke und legte sie Sameera um die Schultern. Sie zog den abgetragenen Stoff eng um sich zusammen und lächelte schwach.
»Die hattest du schon, als wir uns kennengelernt haben.«
»Ich weiß. Die werde ich tragen, bis sie eines Tages auseinanderfällt.« Er ließ sich dicht neben ihr auf der Bank nieder. »Was ist los? Azad hat gesagt, auf dem Markt wäre irgendetwas passiert.«
Sie schmiegte die Wange an seine Schulter und schloss die Augen. »Eine Panikattacke. Die schlimmste, an die ich mich erinnern kann, jedenfalls in diesem Jahr. Schwindel, Übelkeit, Herzrasen, Schweißausbrüche – das ganze Programm. Ich hab es irgendwie zum Stand von Hassan baba geschafft. Er wollte, dass Sherif mich in die Klinik fährt, aber zum Glück konnte ich ihm das ausreden.«
»Zum Glück?« Vikram schüttelte den Kopf. »Geliebte, begreifst du eigentlich nie, wann du wirklich Hilfe brauchst?«
»Ich begreife es nur zu gut.« Sameera trank einen weiteren Schluck; sie klang überraschend sachlich. »Aber das mit der Hilfe ist leider nicht ganz so einfach.«
»Wieso?«
»Ich kann keine Antidepressiva nehmen – und bevor du fragst: Nein, an Mohan liegt es nicht. Wenn ich wüsste, dass es hilft, würde ich unseren Kleinen halt abstillen. Aber sogar die Mittel ohne Benzodiazepin bekommen mir nicht, und die Nebenwirkungen sind eine Katastrophe. Damals in Shimla habe ich sie mehr als ein halbes Jahr geschluckt; das tu ich mir nicht noch einmal an, wenn ich nicht unbedingt muss.«
»Und ein Therapeut? Lakshmi wird doch sicher jemanden kennen, zu dem du gehen kannst.«
»Bei dem Therapeutenmangel hier im Tal? Du machst Witze. Abgesehen davon würde ich nur mit einem Kollegen sprechen wollen, den ich wirklich sehr gut kenne und dem ich hundertprozentig vertraue. Denn wenn ich über das reden will, was mich belastet, dann wird natürlich Gupta zur Sprache kommen… und möglicherweise auch der merkwürdige Unfall, der ihn das Leben gekostet hat.«
Vikrams Mund wurde schmal. Sameera hatte recht, das war ein Thema, das man nicht jedem anvertrauen durfte – jedenfalls nicht wahrheitsgemäß und in vollem Umfang. Sonst würde seine Kaution schneller widerrufen werden, als er bis drei zählen konnte, und er würde erneut ins Gefängnis wandern. Und diesmal für immer.
»Ich habe es satt.« Sameeras Stimme klang müde und bitter. »Seit meiner Ankunft hier in Kashmir vor vier Jahren bin ich schon zweimal zum Spielball deiner Feinde geworden. Meine Hilflosigkeit ist nach jedem dieser Übergriffe gewachsen, und meine Angst auch. Nicht vor dem, was Al Yussufs Männer damals mit mir gemacht haben… oder Gupta. Sondern davor, irgendwann wieder ein Druckmittel zu sein, das deine Feinde gegen dich verwenden wie eine Waffe, um dich zu schwächen.«
»So siehst du dich?« Er nahm sie in die Arme. »Du hast mich noch nie geschwächt, und du wirst es niemals tun. Nicht, solange du mich liebst und bei mir bleibst, mein Herz.«
Sameera lehnte die Stirn gegen seine Brust. »Es beruhigt mich, das zu hören. Trotzdem – so etwas kann immer wieder passieren. Und was willst du dagegen tun? Auch noch persönliche Leibwächter für mich anheuern, so wie damals für Tarek? Sie haben ihn nicht dauerhaft schützen können, das weißt du. Sie haben nicht verhindern können, dass Najiha heute Witwe ist und die kleiner Nour ihren Vater nie kennenlernen durfte.«
»Ja, das weiß ich.« Er strich ihr über das Haar. »Aber dir ist doch bestimmt klar, dass dieses Haus und alle, die darin leben, von Najihas Leuten überwacht werden? Seit Rajas und deiner Entführung im April hat es keine Zwischenfälle mehr gegeben. Die Löwin von Kashmir macht denselben Fehler nicht zweimal. Und jetzt haben wir zudem auch noch Rizwan Padar als Wachmann, und bislang macht er seine Sache gut.«
»Mag sein. Aber dummerweise lernen unsere Feinde auch dazu. Ich… ich wünschte, ich wäre ein bisschen wehrhafter. Bisher habe ich mich immer darauf verlassen können, dass du kommst und mich rettest.«
»Nicht bei Gupta.« Er sprach leise und grimmig.
»Wie man’s nimmt. Immerhin hast du mich aus dem Präsidium geholt. Sogar mit Eskorte.« Sameera atmete tief durch. »Und der Rest – das war mein ganz persönlicher Pakt mit dem Teufel.«
Sie stand auf.
»Ich wünschte, ich müsste nie mehr davon träumen. Ich wünschte, ich könnte wieder allein auf den Markt gehen, ohne ständig auf die Schritte der Männer zu lauschen, die mich damals mitgenommen haben. Seit Monaten wage ich mich fast nur noch in Begleitung nach Srinagar hinein, weil meine Furcht davor, es allein zu tun, immer größer geworden ist. Ich hab diese Angst so entsetzlich satt. Ich will kein Opfer mehr sein.«
Er sah die Verzweiflung und Ratlosigkeit in ihren Augen.
»Hilf mir, Vikram! Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Er lächelte schwach. »Ich bin kein Therapeut wie du, Liebste… nur ein alter Krieger mit zu vielen Narben auf Leib und Seele. Und ich weiß nicht, ob ein Rat ausgerechnet von meiner Seite dir wirklich etwas nützt. Aber vielleicht hast du recht. Vielleicht wird es Zeit, dass du lernst, dich zur Wehr zu setzen.«
Sameera runzelte die Stirn. »Wie genau stellst du dir das vor?«
Er stand auf, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie zärtlich. »Ich erklär’s dir. Aber zuerst kommst du mit hinein, sonst erkältest du dich noch. Dann isst du endlich etwas, und danach – aber wirklich erst danach – sage ich dir, wie genau ich mir das vorstelle.«
***
»Oh Gott… das tut weh!«
Sameera lag bäuchlings auf ihrem Bett. Sie war nackt, und auf ihrem rechten Schulterblatt prangte