»Du hast recht.« Vikram gab sich einen Ruck und schüttelte die plötzliche Niedergeschlagenheit ab. »Zuerst einmal werden wir jetzt dafür sorgen, dass Prem sich nicht einem ganzen Wald von Mikrofonen gegenübersieht, wenn er das Gefängnis verlässt. Ich würde gern glauben, dass die Öffentlichkeit die Geschichte von seinem Verrat bei deiner Entführung längst vergessen hat, aber vielleicht findet irgendeiner von diesen Pressehyänen sie ja immer noch saftig genug. Und wenn der Erste dort auftaucht, dann kommen sie alle.«
»Wahrscheinlich.« Sameera lehnte müde den Kopf an seine Schulter, und er betrachtete das friedlich träumende Gesicht seines Sohnes. »Ich wünschte, sie hätten damals nicht so einen Aufruhr veranstaltet.«
»Du warst Mitarbeiterin einer internationalen Hilfsorganisation«, antwortete Vikram ruhig, »und von einem Tag zum anderen spurlos verschwunden. Deine Zeugenaussage im Prozess gegen Ahmad Al Yussuf und Prem hat viel Staub aufgewirbelt. Verdammt peinlich für all die, die mit ihren Mauscheleien, ihren Bestechungen und Geschäften in Kashmir am liebsten ungestört geblieben wären. Bei Ausländern schauen nicht nur die ernstzunehmenden Journalisten, sondern auch die Schmierfinken etwas genauer hin.«
»Vielleicht fällt dir ja etwas ein, damit die erste Stunde in Freiheit nicht so ein Schock für Prem wird«, meinte Sameera. »Und vielleicht können wir ihn danach hierherbringen – dann hat er die Gelegenheit, durchzuatmen, und wir können mit ihm in Ruhe darüber reden, was er jetzt vorhat.«
»Kein Problem.« Vikram lächelte. »Das sollte sich organisieren lassen. Aber jetzt kümmere ich mich wohl am besten erst mal um die Fleischeinlage für die Suppe.«
Er krempelte die Ärmel hoch und ging Richtung Tür.
»Die beiden fetten Hennen, die vor allem fressen und kaum Eier legen, sind fällig. Faule Biester. Es wird höchste Zeit, dass sie mal für irgendwas von Nutzen sind.« –––
An diesem Abend versammelten sich die Bewohner des Dar-as-Salam, die die Grippeepidemie nicht ans Bett fesselte, um den langen Tisch im Aufenthaltsraum. Die kräftige Hühnersuppe war mit Reis, Lauch und Möhren gekocht worden und fand regen Zuspruch. Nach dem Abendessen machte Sameera die Runde durch die Zimmer, verteilte Hühnerbrühe, Hustensirup und Erkältungsbalsam und kam gegen zehn ins Schlafzimmer, von einer Wolke aus Kampfer und Eukalyptus umgeben und ihren Sohn im Arm. Die Nacht verbrachte Mohan Sandeep friedlich im Bett zwischen seinen Eltern. Sameera sang ihm So Ja Chanda vor und Vikram lauschte auf die dunkle, warme Stimme, die ihn zu einem verzauberten Abend im letzten Sommer zurücktrug, als seine Frau, Sita und die kleine Rani das Wiegenlied zum ersten Mal für seinen Sohn angestimmt hatten. Irgendwann schlief er ein, während Mohans kleine Faust unbeirrt seinen Daumen festhielt.
***
»Karim – wären Sie so freundlich und würden mich hier aussteigen lassen?«
Najihas Fahrer bremste, drehte sich zu dem Passagier um, der im Fond saß, und runzelte die Stirn. »Ich habe Anweisung von der Kamaal sahiba, Sie direkt vor der Haustür abzusetzen.«
Prem Ghanand lächelte geduldig. »Das glaub ich Ihnen gerne. Aber man kann das Haus doch von hier aus schon sehen, und ich bin sicher, ich gehe auf den letzten paar Metern nicht verloren. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie bleiben mit Ihrem Wagen so lange stehen, bis ich angekommen bin, und dann fahren Sie zurück. Einverstanden?«
Karim zögerte, dann nickte er. »Einverstanden. Warten Sie, Ghanand sahab – ich hole Ihre Tasche aus dem Kofferraum.«
Prem stutzte, dann lächelte er erneut. »Sahab hat mich fast vier Jahre lang nur mein Anwalt genannt. Schönes Gefühl, muss ich sagen. Danke, Karim.«
»Keine Ursache.« Karim stieg aus dem Wagen und holte die Reisetasche, die eine komplett neue Grundausstattung an Kleidern enthielt. Seit seiner Verurteilung hatte Prem Ghanand ausschließlich die Gefängnisuniform getragen; seine eigenen Sachen hatte Dr. Lakshmi Shetty, die Leiterin der Klinik in Srinagar und seine damalige Arbeitgeberin, nach seinem Haftantritt in dem möblierten Appartement, das er damals bewohnt hatte, zusammenpacken lassen und an seine Mutter Sridevi Ghanand in Delhi geschickt.
Jetzt, vier Jahre später, war das kleine Appartement ebenso außer Reichweite wie die meisten seiner persönlichen Besitztümer, und seine Mutter hatte ihm wenige Tage vor seiner Entlassung einen Umschlag zukommen lassen, der einen üppigen Scheck und einen knapp formulierten Brief enthielt: Sridevi Ghanand erwartete, dass er sich von dem Geld neu einkleidete und dann ohne Umwege nach Hause kam; am Sheikh-ul-Alam-Flughafen lag ein Ticket für ihn bereit. Ich wünsche, dass du den Staub dieser verfluchten Provinz von den Füßen schüttelst und zu deiner Familie zurückkehrst, hatte sie geschrieben. Sobald du wieder da bist, wo du hingehörst, werden wir diese schreckliche Episode vergessen, und ich werde dir alle Türen in eine verheißungsvolle Zukunft öffnen.
Immerhin war ihm die drohende Begegnung mit der Presse erspart geblieben. Wie immer Najiha Kamaal das auch angestellt, wen sie geschmiert oder auf wen sie sanft Druck ausgeübt hatte – heute Morgen jedenfalls hatte auf dem kleinen Vorhof, der das Gefängnisgebäude von dem großen Tor trennte, ein Wagen mit abgedunkelten Scheiben auf ihn gewartet, während er sich von dem Gefängnisdirektor und einigen der Wärter verabschiedete, die extra erschienen waren, um ihm das Geleit zu geben. Die Insassen, die er psychologisch betreut hatte, wollte er auch weiterhin regelmäßig besuchen – einer der vielen Gründe, wieso eine Rückkehr nach Delhi für ihn absolut nicht in Frage kam.
Auf dem Rücksitz des Wagens lag zu seiner Überraschung eine dick gesteppte Daunenjacke, und aus einer der Taschen lugte ein kleiner Umschlag. Als Prem ihn zögernd öffnete, fand er einen handgeschriebenen Zettel: Die Jacke haben wir dir besorgt, damit du in deinem ersten Winter in Freiheit nicht gleich mit den Zähnen klapperst. Im Kofferraum findest du eine Reisetasche mit dem Nötigsten, was du erst einmal brauchst. Wir freuen uns auf dich! Sameera. Das war der zweite Brief, den er innerhalb von zwei Tagen erhielt; dieser allerdings erfüllte ihn mit Erleichterung und großer Wärme. Der Fahrer hatte ihn höflich begrüßt, das Tor war geöffnet worden und sie waren hindurchgefahren, begleitet von einem Blitzlichtgewitter und einem Rudel Reporter, die vor dem Wagen zur Seite auswichen und deren Fragen nutzlos an den dunklen Scheiben abprallten. –––
Er nahm Karim die Tasche ab, verabschiedete sich und ging langsam den dick verschneiten Weg entlang, der geradewegs zum Dar-as-Salam führte. Das Schindeldach des alten, langgestreckten Holzhauses trug eine glitzernd weiße Haube, über der sich ein unfassbar weiter Himmel wölbte. Die Luft war kalt und frisch; er lauschte auf das Knirschen seiner Schritte und genoss jeden einzelnen Atemzug. Die Landschaft, die ihn umgab, war überwältigend. Im Gefängnis hatte sich seine Welt auf die Zelle, das Besuchszimmer und später – als er anfing, seine Mithäftlinge zu beraten – die kleinen Gesprächsräume beschränkt. Selbst die Luft beim täglichen Hofgang war ihm noch stickig vorgekommen. Dass er jetzt plötzlich wieder so viel Raum um sich hatte, machte ihm beinahe Angst.
Das Haus kam immer näher; er konnte den Rauch sehen, der aus zwei Schornsteinen aufstieg. Drinnen war es sicher warm und behaglich – ein Zuhause. Während er darauf zuging, wurde ihm jäh klar, dass dies das erste Mal sein würde, dass er Vikram Sandeeps Waisenheim betrat; vor seiner Verurteilung und Haft hatte er es nie von innen gesehen.
Damals vor fünf Jahren hatte er die Vorstellung merkwürdig gefunden, dass Sameera so viel Zeit mit dem alten Ex-Agenten und seinen Kindern verbrachte. Er hatte begriffen, dass ihr Herz dem Mann und seinen Schützlingen zuflog, und er hatte sein Bestes getan, ihre Gefühle zu tolerieren. Doch dann war Ahmad Al Yussuf gekommen und hatte aus kaltem Kalkül und mit voller Absicht das Tor zu seiner persönlichen Hölle geöffnet, um ihn mit seinen Erinnerungen und lang verdrängten Ängsten zu manipulieren. Auf diese Weise hatte er Prem bei der Entführung von Sameera zum willigen Komplizen gemacht.
An diese Zeit wollte Prem nicht mehr denken… jedenfalls nicht jetzt. Es war eine seiner nützlichsten Strategien geworden, sich bevorzugt alles ins Gedächtnis zu rufen, was in den letzten vier Jahren positiv gewesen war und ihn weitergebracht hatte. Die Beratungstätigkeit für seine Mitgefangenen hatte ihm sehr geholfen, die Briefe von Raja Sharma, die seit