Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ingrid Zellner
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Kashmir-Saga
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347155794
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leise Ironie mit.

      »Ach was – raus damit, mein Mädchen!« In Vikrams Augen brannte eine Flamme, heiß und intensiv. »Zieh ruhig vom Leder. Hier ist niemand, glaube ich, der das nicht verkraftet… oder nicht schon mal dasselbe gedacht hat.«

      »Sprich, meri asaadharan dost«, sagte Raja sanft. »Ich höre dir zu.«

      »Sag es uns.« Sameeras Gesicht war ruhig und voller Anteilnahme.

      »Also schön.« Najiha beugte sich leicht vor. »Aber dann stellt euch vor, dass wir hier nicht im Dar-as-Salam sind, sondern im Versammlungssaal des Parlaments – und ihr seid nicht meine Freunde, sondern ein Rudel Männer, die für ihren Anteil an der Macht die eigenen Mütter ermorden und die eigenen Kinder verschachern würden.«

      Sie erhob sich, richtete sich auf und holte tief Luft; in Sekundenbruchteilen wurde aus der niedergedrückten Frau eine stolze Kämpferin.

      »Ich bin die Tochter von Mohammed Abbas Ansari«, begann sie. »Er war der Maulvi, das geistliche Oberhaupt des Tales. Er hat fest daran geglaubt, dass die Kashmiris ihre Probleme in Eigenregie lösen könnten und lösen sollten – ohne Indien, ohne Pakistan, ohne Erpressung und falsche Versprechungen. Sein Fehler war, dass er einem Freund vertraute, nämlich Shabir Abdullah, der sich bereits von beiden Seiten bezahlen ließ. Und der auf dieses Geld nicht mehr verzichten wollte. Da hat er lieber auf meinen Vater verzichtet.«

      Sie hielt einen Moment inne.

      »Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, Shabir baba sei mein Beschützer. Ich dachte, er hätte nichts als mein Wohl im Sinn, und das Wohl von Kashmir. Azadi Kashmir ist das Brot gewesen, das ich aß, und das Wasser, das ich trank – ohne zu ahnen, dass beides vergiftet war durch Täuschung und Verrat. Weil mein Pflegevater und Vormund gleichzeitig der Mörder meines Vaters war, und weil er sich jetzt anschickte, auch Kashmir zu ermorden.«

      Najiha ließ den Blick schweifen, als sähe sie anstelle der vier vertrauten Gesichter im Zimmer andere vor sich, die ihr nicht Liebe einflößten, sondern eisige Verachtung. Ihre Lippen verzogen sich nach unten.

      »Das tut ihr alle, seit Jahren! Ihr schnürt diesem Tal und den Menschen, die darin leben, Stück für Stück die Luft ab – seit 1947, als man den Kashmiris verwehrt hat, sich zu entscheiden. Das war zu gleichen Teilen die Schuld von Pakistan und Indien; aber eure Schuld ist größer, viel größer. Anstatt mit einer Stimme zu sprechen, anstatt den Frieden dieses Tales fest im Blick zu behalten, führt ihr euch auf wie wilde Tiere, die sich für ein Stück Fleisch gegenseitig an die Gurgel gehen! Ihr beschwört die Reinheit des Islam und führt den Namen Allahs im Munde, aber das Weinen der verwaisten Kinder und die Schreie der missbrauchten Frauen lassen euch kalt. Ihr haltet gefühlstriefende Ansprachen über das Kashmiryat und tretet es gleichzeitig Tag für Tag mit Füßen. Ihr habt Angst vor der Macht, die ich über euch habe, weil ich euch kenne – jede eurer kleinlichen Missetaten, eure gemeinen Betrügereien, eure grenzenlose Geldgier. Und deswegen beschimpft ihr mich als Hure, die sich ihre Position nur dadurch verschafft, dass sie für die Mächtigen die Beine breit macht. Ihr Heuchler!«

      Sie ballte die Hände vor der Brust zu Fäusten; ihr schönes Gesicht glühte vor Zorn.

      »Ihr habt mir meinen Vater genommen, und ich habe nicht aufgegeben. Ihr habt mir Tarek geraubt, der mein Herz und meine Seele war… und ich lebe immer noch. Und jetzt habt ihr versucht, auch noch mich auszulöschen, und eine Unschuldige getroffen. Nicht dass das etwas Neues wäre! Ich verfluche euch – ich verfluche euch in die tiefste Hölle! Aber ich gebe nicht auf! Ihr werdet mich nicht vernichten, und ihr werdet Kashmir nicht vernichten – nicht, wenn ich es verhindern kann. Und ich werde für Kashmir kämpfen bis zu meinem letzten Atemzug!«

      Sie verstummte und senkte den Kopf.

      »Bis zu meinem letzten Atemzug«, wiederholte sie… und dann, ganz plötzlich, schluchzte sie auf. Vikram ging rasch zu ihr und zog sie fest an sich.

      »Bis zu deinem letzten Atemzug«, sagte er liebevoll. »Und bis zu meinem. Und jetzt lass die Wut los, mein Mädchen. Hier darfst du schwach sein und trauern… du bist unter Freunden, die dich lieben.«

      Najiha vergrub das Gesicht an seiner Brust. Sie weinte so heftig, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sameera stand auf, streckte die Hand aus und strich Najiha schweigend über das Haar, wieder und wieder. Dann legte sie ebenfalls die Arme um sie und lehnte den Kopf an ihre Schulter. Auch Sita erhob sich, trat dicht an Najiha heran und küsste sie sanft auf die Wange.

      Raja spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Najihas rasender Schmerz riss an seinem Herzen und schien alle seine Albträume gleichzeitig aufzuwecken. Doch gleichzeitig war da eine Kraft in diesem Raum, die ihn ermutigte… stark und überwältigend, wie ein reinigendes Gewitter.

      Er berührte Najihas Arm. Najiha löste sich von Vikram und trat einen Schritt zurück. Sie sah Raja an, das Gesicht bleich und tränenüberströmt. Vikram, Sameera und Sita standen neben ihr wie aufmerksame Wächter, den Blick ebenso fest auf ihn gerichtet. Und plötzlich wusste er genau, was Najiha in diesem Moment von ihm hören musste.

      »Du solltest jetzt nach Hause zu deiner Tochter fahren, meri asaadharan dost«, sagte er ruhig. »Und wenn du erlaubst, dann komme ich mit dir. Wir entwerfen gemeinsam eine Presseerklärung, Hasim Abbas stellt mir bestimmt auf die Schnelle einen Verteiler mit den wichtigsten Medienadressen zusammen – und dann verkünden wir der Welt, dass du am Leben und wohlauf bist. Du brauchst dich um nichts zu kümmern.«

      Die heftige Anspannung schwand aus ihrem Körper und sie schwankte leicht, wie am Rand der totalen Erschöpfung. Raja griff rasch zu und hielt sie aufrecht.

      »Und außerdem«, fuhr er fort, »bewachen wir in den nächsten Stunden deine Telefone und halten dir die Hyänen vom Leib. Dann kannst du den Rest des Abends ganz für deine Tochter da sein. Einverstanden?«

      Najiha blickte zu ihm auf und brachte ein bleiches Lächeln zustande.

      »Einverstanden, mein Vazir. Lass uns gehen.«

      Kapitel 6

       Neubeginn

      Der Anfang des neuen Jahres war eisig kalt und schwer von Schnee. Die Sharmas reisten zurück nach Shivapur – gerade rechtzeitig, bevor Yussuf sich eine handfeste Grippe samt hartnäckigem Husten einfing und damit eine Erkältungswelle im Dar-as-Salam auslöste. Sameera behandelte diesen plötzlichen Ansturm von Winterkrankheiten mit heißen Kräutertees, Dampfbädern und Hustenbonbons und sorgte dafür, dass alle Kinder stets frische Taschentücher bei sich trugen.

      Kurz nach dem Dreikönigstag stand sie frühmorgens in der Küche und rührte in einem Topf, in dem ein Sirup aus Honig, zerstoßenen Minzblättern und Spitzwegerich auf kleiner Flamme eindickte. In Gedanken zählte sie die Häupter ihrer Lieben: Yussuf erholte sich langsam, Firouzé war heute daheim geblieben und lag mit Fieber im Bett. Zooni nieste seit gestern ununterbrochen und Moussa schlich mit verdächtig rot verschwollenen Augen durchs Haus.

      Der Rest der Familie war (noch) gesund, und die beiden Neuzugänge Sinan und Salma Desouli schienen ebenso wie Azad bisher absolut virenresistent zu sein. Vor allem bei Letzterem war das ein Glück, denn seine Schwester Ameera war zu ihm in sein Zimmer gezogen, um Platz zu machen für die verwaisten Kinder von Najihas Buchhalterin Almas Desouli, die bei dem Anschlag auf das Parteibüro von Gulmohar ums Leben gekommen war. Immer wieder musste Sameera an jenen Nachmittag denken – an die Bilder in den TV-Nachrichten, an die Brandrede, mit der Najiha ihrem gerechten Zorn freien Lauf gelassen hatte, und an den spontanen Einsatz von Raja, der erst am Morgen danach völlig übernächtigt wieder ins Dar-as-Salam zurückgekommen war. Immerhin hatte Najiha den ersten Schock erfreulich schnell überwunden und bereits neue, provisorische Büroräume für ihre Partei angemietet – in Sichtweite der verbrannten Ruine, als wollte sie sich daran erinnern, dass es in »ihrem« Tal keine wirkliche Sicherheit für sie gab.

      »Sameera aunty?«

      Sameera wandte sich um. Salma stand in der Tür – ein zierliches elfjähriges Mädchen mit einem seidenweichen, tiefbraunen Haarschopf und