Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ingrid Zellner
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Kashmir-Saga
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347155794
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darüber. Dank unserer Familie hier in Srinagar haben wir noch mehr Menschen, die ein Teil von uns sind und die wir lieben dürfen. Ihr macht unser Leben hell… und wir eures hoffentlich auch. Ich wünsche mir, dass niemand von uns allen dieses Licht jemals wieder verliert.«

      Sameera zog Sita an sich und nahm sie in die Arme. Sie schaute zu Raja hinüber, der leise mit Moussa und Azad sprach, zu Vikram, der lachend stillhielt, während Mohan die Finger in seinem Bart vergrub, und zu den Kindern, die sich um Zobeida und ihre große Thermoskanne scharten. Die jubelnde Wärme, die sie in sich spürte, war um ein Vielfaches stärker als der morgendliche Frost, der sie umgab.

      »Danke«, sagte sie leise. »Im Moment kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass es um uns herum jemals wieder ganz dunkel wird.«

      ***

      Wenig später versammelten sich alle zur Bescherung im festlich mit Girlanden und Lichterketten geschmückten Aufenthaltsraum. Bei dieser Gelegenheit lüfteten Sita und Sameera auch das Geheimnis ihres Einkaufsbummels bei dem Juwelier in Srinagar: Sita hatte Ismail Kabulis nagelneue Chenar-Kollektion komplett gekauft und trug nun einen Armreif aus silbernen Chenarblättern, einen ebenso gestalteten Ring, zarte Blattohrstecker und eine lange Silberkette mit einem einzelnen Chenarblatt. Zu der Kollektion gehörten außerdem noch große Creolen, an denen ebenfalls Chenarblätter baumelten und in die sich Sameera so sehr verliebt hatte, dass Sita sie ihr kurzerhand zu Weihnachten geschenkt hatte. Allerdings wartete Sameera wohlweislich darauf, sich mit ihnen zu schmücken, bis Mohan sein nächstes Schläfchen halten würde.

      Vikram und Raja hatten schon im Vorfeld gewusst, dass sie auf ihre Geschenke noch warten mussten. Sameera hatte im Oktober mehrere Meter edlen, dunkelgrünen Seidenstoff gekauft und Zeenath dazu angestiftet, für Vikram und Raja zwei gleiche Sherwanis zu schneidern und zu besticken – und da sie ohnehin planten, die Qasibs nach den Feiertagen in Gulmarg zu besuchen, hatte Zeenath gebeten, die Sherwanis selbst überreichen zu dürfen. Für große Begeisterung sorgten bei allen die Geschenke der Sharmas: Jeder Bewohner des Dar-as-Salam bekam eine DVD mit einem Film, den Rajas Söhne Surya, Sumair und Soham zusammengestellt hatten. Sie hatten dafür zahlreiche Videos verwendet, die Sumair während der »Evakuierungszeit« der Kinder in Shivapur gemacht hatte, und dazu Aufnahmen, mit denen Surya die Renovierungsarbeiten an dem Haus des Friedens dokumentiert hatte. Die Kinder bestanden darauf, den Film sofort anschauen zu dürfen; alles versammelte sich vor dem großen Fernseher und jede Szene wurde aufgeregt kommentiert. Dass es zwischendurch auch Augenblicke von der Baustelle zu sehen gab, freute die Kinder besonders, und Vikram und Sameera genossen es, auf diese Weise an der Zeit teilnehmen zu können, die ihre Schützlinge so weit von ihnen entfernt bei den Sharmas verbracht hatten.

      Nach einem ausgedehnten Brunch zogen die Kinder sich mit ihren neuen Schätzen in die Zimmer zurück. Ahmad entführte Raja, um ihm eine ganze Kollektion neuer Kochrezepte zu zeigen, die er in den vergangenen Wochen abgespeichert hatte; es war bereits ausgemachte Sache, dass die beiden an einem der kommenden Tage das Regiment über den Herd des Dar-as-Salam übernehmen und gemeinsam für die ganze Gesellschaft kochen würden. Zooni wollte Sita unbedingt einige ihrer neuesten Kunstentwürfe zeigen, und Vikram hackte draußen Holz für die Feuerstellen. Mohan war eingeschlafen, und so hatte Sameera endlich Muße, Janveer anzurufen. Sie zog sich dafür in Vikrams Büro zurück, ließ sich auf dem sündhaft bequemen Schreibtischstuhl nieder, den sie ihrem Mann unlängst spendiert hatte, und streckte die Beine von sich.

      »Hallo, Janveer«, sagte sie lächelnd, als er sich meldete. »Krismas mubarak. Ich muss bekennen, in den letzten Tagen war ich ein bisschen faul. Aber ich verspreche dir, morgen komm ich für ein paar Stunden Konditionstraining rüber. Kann mir gar nicht schaden bei der Festtagsküche hier. – Ja, ich weiß, zu lange Pausen sind nicht gut; ich hab meinen letzten Muskelkater noch nicht vergessen. Wenn wir aus Gulmarg zurück sind, machen wir mit den Schulterwurfübungen weiter. Dann werden wir sehen, wer von uns beiden zuerst auf der Matte landet. – Nein, noch nicht. Aber Vikram hat mir versprochen, dass wir im Januar mit dem Waffentraining anfangen. Ich glaube, es macht ihn nicht wirklich glücklich, dass ich lernen will, wie man mit einer Pistole umgeht. Dabei war es seine Idee!«

      Sie ließ den Sessel herumkreiseln… und stellte plötzlich fest, dass sie nicht mehr allein war. Auf der Türschwelle stand Sita, die Stirn gerunzelt und ein halbes Dutzend Fragen in den Augen.

      »Du willst lernen, wie man schießt?«

      Sameera holte tief Luft. »Ich ruf zurück, Janveer«, sagte sie leise und legte auf.

      Der Raum war sehr still, und Sita wartete geduldig auf eine Antwort. Eine Antwort, in der es um viele Dinge gehen würde, über die Sameera am liebsten überhaupt nicht reden wollte. Du wolltest damals auch nicht über den Abend mit Gupta reden, erinnerte sie sich. Mit niemandem, und schon gar nicht mit Sita. Und es war ein Segen, dass du es am Ende doch getan hast.

      »Richtig, meri behn«, sagte sie endlich. »Ich muss wissen, wie man sich gegen körperliche Angriffe wehrt. Ich will lernen, wie man verriegelte Türen öffnet und wie man einen Gegner außer Gefecht setzt, wenn man keine Waffe hat als die bloßen Hände. Und ja – ich will außerdem lernen, wie man schießt. Ich erkläre dir auch, warum… aber mach bitte erst die Tür zu, ja?«

      ***

      »… und dann, am Stand von Hassan baba, hatte ich das Gefühl, es wäre alles wieder da«, sagte Sameera. Sie saß immer noch auf Vikrams Drehstuhl; Sita hatte sich in dem Lesesessel in der Ecke niedergelassen. »Hamid hat mich nach Hause gefahren, ich hab Mohan gefüttert und bin hinaus an die Feuerstelle gegangen. Und da bin ich geblieben, bis Vikram abends nach Hause kam und mich gefragt hat, was los ist.«

      »Und wer von euch ist auf die Idee gekommen, dich in einen Selbstverteidigungskurs zu stecken?«, fragte Sita, die Sameeras Erzählung hochkonzentriert und mit sichtbarer Besorgnis zugehört hatte.

      »Das war Vikram.« Sameera schaute auf ihre Hände hinunter. »Ich hab ihm gesagt, dass ich nicht mehr das ewige Opfer sein will, das seine Feinde dazu missbrauchen, ihm zu schaden. Und er meinte, er hätte nur den Rat eines alten Kriegers anzubieten: dass ich lernen muss, mich zu wehren.«

      »Ich verstehe. Klar, du kannst dich ja nicht für den Rest deines Lebens zuhause einsperren. Und selbst das bietet keine hundertprozentige Sicherheit.« Sita strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Und was genau machst du da alles? Du hast etwas von Schulterwurfübungen gesagt – offenbar gehst du gleich aufs Ganze!«

      »Ich mach das jetzt schon fast drei Monate«, erklärte Sameera. Sie spürte, wie ihr leichter ums Herz wurde; es war doch gut, mit Sita darüber zu reden. »Am Anfang hat Janveer mir überhaupt keine Kampftechniken beigebracht, sondern mich im Fitnessraum bei Najiha trainieren lassen bis zum Umfallen. Und ich bin gelaufen… so viel und so weit wie nie zuvor in meinem Leben. Abends bin ich vor Erschöpfung fast mit der Nase im Essen gelandet. Aber weißt du was – seitdem träume ich nicht mehr. Die Erinnerungen sind noch da, aber wenigstens muss ich im Schlaf Guptas Stimme nicht mehr hören.«

      »Das ist ja schon mal ein Fortschritt«, stellte Sita fest. »Und was ist mit deinen Panikattacken in der Öffentlichkeit? Sind die auch schon weniger geworden?«

      Sameera biss sich auf die Lippen. »Ich muss zugeben, ich hab es seit damals noch nicht wieder versucht, allein auf den Markt zu gehen.«

      »Könntest du dir denn vorstellen, es zu tun?«, fragte Sita. »Ich meine, jetzt, wo du schon ein wenig in Selbstverteidigung geübt bist.«

      »Ehrlich?« Sameera senkte den Blick. »Nein. Noch nicht ganz.«

      Sita seufzte. »Dann müssen wir uns vorläufig mit den ausbleibenden Träumen als erstem Erfolgserlebnis begnügen. Ich halte dir die Daumen, didi, dass es bald noch weiter aufwärts geht. Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun.«

      Sameera lächelte. »Glaub mir, du tust genug. Du hörst mir zu, und das ist eine ungeheure Erleichterung für mich. So wie damals im April, weißt du?«

      Ein Schatten flog über Sitas Gesicht. »Nur dass die weise Ratgeberin diesmal nicht so recht weiß, wie sie dir helfen kann. Mit Zuhören