„Ich bin überzeugt, die Polizei würde es aus ihm herausbekommen, wo er das Geld versteckt hat“, warf Charles noch in die Waagschale.
Ich war da nicht so sicher. „Ross soll ein ganz unangenehmer Bruder sein“, sagte ich. „Wenn das Bild stimmt, dass ich mir von ihm gemacht habe, wird er das Versteck niemals preisgeben.“
„Dann wird es seine Freundin verraten.“
„Wer weiß, ob sie überhaupt davon Kenntnis hat.“
„Ich schlage vor, wir geben ihm noch eine halbe Stunde. Wenn er uns bis dahin nicht zum Geld geführt hat, versuchen wir es andersrum“, meinte Susan Tucker.
Eben wollte der Tankwart die Scheiben des Thunderbird reinigen, doch Ross winkte kopfschüttelnd ab. Er hatte im Moment andere Sorgen als die um eine reine Windschutzscheibe.
Er setzte sich hastig in seinen Wagen und brauste mit aufheulendem Motor davon.
Das war ein Zeichen für mich, ebenfalls wieder ein bisschen auf die Tube zu drücken.
Nach einer Fahrt von zehn Minuten glomm plötzlich das rechte Blinklicht von Ross’ Wagen in kurzen Abständen auf.
Gleich darauf bog er in eine schmale Straße ein, die direkt zum Lake Michigan hinunterführte.
„Was sagt man?“, grinste ich. „Scheint keine lange Rundreise zu werden. Soviel ich weiß, endet die Straße am See.“
„Das würde heißen, dass wir unser Abendbrot schon wieder zu Hause verzehren können“, sagte Susan.
„Das trifft sich gut“, knurrte Charles Lenoire hinter uns. „Hab’ nämlich meine Zahnbürste nicht bei mir. Außerdem schlafe ich nur ungern in fremden Betten.“
Ich hielt genügend Distanz, um Ross nicht noch im allerletzten Moment kopfscheu zu machen, und meine Vorsicht wurde damit belohnt, dass uns Montague Ross geradewegs zu seinem abseits gelegenen Strandhaus führte.
29
Die Männer der Tyrrell-Gang hatten sich eine Menge Grobheiten anzuhören, als sie ihrem Chef Bericht erstatteten.
Tyrrell war außer sich vor Zorn. Er platzte nahezu vor Wut, denn die Unfähigkeit seiner Leute hatte aus dem sorgfältig durchdachten Vergeltungsschlag einen wirkungslosen Schlag ins Wasser gemacht.
Die Männer hatten weder die neunhundertfünfzigtausend Dollar finden können, noch war es ihnen gelungen, Montague Ross fertigzumachen.
Das einzige, was sie geschafft hatten, war, die Tankstelle vollkommen zu zerstören. Ein schwacher Trost für einen Mann, der den verhassten Feind Ross um jeden Preis tot sehen und die geraubte Beute wiederhaben wollte.
30
Ross und Mei Chen beeilten sich, aus dem Thunderbird zu kommen. Auf dem kurzen Weg zum Strandhaus fingerte der kleine Mann in seinen Taschen nervös nach dem Schlüssel.
Das Haus war im Stil einer spanischen Hazienda gebaut. Die Wände waren weiß getüncht, die arkadenartigen Vorbauten spendeten viel Schatten, während sich die Balkone gierig dem bereits schwächer werdenden Sonnenlicht entgegenreckten.
Montague Ross stieß aufgeregt den Schlüssel ins Schloss.
Gleich darauf stürmte er mit seiner chinesischen Freundin ins Haus.
„Schließ die Tür, Mei Chen!“, keuchte er. Er lief durch die mit Tigerfellen dekorierte Halle. Über den Fellen kreuzten sich alte Schwerter und Helebarden, Schilder von Rittern, Helme, Musketen und eiserne Gesichtsmasken vervollständigten diese mittelalterliche Sammlung.
Ross riss die Schiebetür zur Seite und hastete in sein Arbeitszimmer.
„Die Reisetasche, Mei Chen!“, rief Ross. „Bring bitte die Reisetasche vom Abstellraum!"
Die Chinesin wandte sich rasch um und lief davon.
Drei Minuten später trat sie mit einer riesigen gelben Schweinslederreisetasche ins Arbeitszimmer. Die Tasche reichte dem Mädchen bis an die Hüften, und da sie größer als Montague Ross war, würde sie diesem sicher bis an die Brustwarzen reichen.
„Stell sie hierhin!“, ordnete Ross schwitzend an. Er stieß einen Stuhl mit dem Fuß beiseite und wies mit der Hand auf die Stelle, wo er die Tasche haben wollte.
Dann fasste er ächzend in die Tasche, holte ein großes weißes Taschentuch hervor und wischte sich mit vor Aufregung zitternden Fingern über die nasse Stirn.
„Heute wär’s beinahe schiefgegangen, was?“, sagte er und versuchte ein Lächeln. Es wurde nicht viel daraus, sah gekünstelt und unehrlich aus. „Ich finde, wir sollten aufhören, Mei Chen.“ Die Chinesin zuckte die Achseln. „Ganz, wie du meinst, Mon“, sagte sie gefügig.
„Neunhundertfünfzigtausend Dollar sind eine Menge Geld, Mei Chen. Nachdem Tyrrell nun mal schon unsere Zelte mit einer Bombe abgebrochen hat, sollten wir nicht auf stur schalten. Wir sollten den Wink des gütigen Schicksals nicht übersehen. Wenn Tyrrell die Stadt allein haben will, soll er sie haben. Es hat keinen Sinn, sich andauernd selbst zu zerfleischen. Wir werden woanders hingehen, Mei Chen. Werden neu anfangen. Genügend Startkapital haben wir dank Tyrrell ja.“
Ross trat an den Wandsafe. Er spielte eine Weile mit der Zahlenkombination herum und öffnete dann das Stahlfach.
„An welche Gegend denkst du, Mon?“, fragte die Chinesin.
Ross grinste. „Das überlasse ich ganz dir. Wir fahren hin, wohin du willst, Darling. Wir beide fühlen uns überall wohl, nicht wahr?“
„Auf die Bahamas vielleicht?“, fragte Mei Chen, denn auf den Bahamas zu wohnen war schon immer ihr Traum gewesen.
„Meinetwegen auf die Bahamas“, nickte Montague Ross. „Immer nur Sonne — stell’ ich mir herrlich vor.“
„Wir hätten uns gleich dort niederlassen sollen, Mon“, sagte die Chinesin. „Wir hätten um Chicago einen Bogen machen sollen. Chicago hat uns kein Glück gebracht.“
„Dafür werden die Bahamas uns Glück bringen, Baby“, lachte Ross optimistisch. Er fasste mit beiden Händen in den Safe und begann den bis obenhin mit Banknotenbündeln vollgestopften Stahlschrank zu plündern.
Mei Chen hielt die gelbe Reisetasche weit auf, damit Ross die Bündel besser verstauen konnte.
Ross hielt mitten in der Arbeit keuchend inne. Er blickte auf seine goldene Armbanduhr und überlegte rasch.
„Wenn ich mich recht besinne, geht in einer Stunde eine Maschine. Wenn wir schnell machen, könnten wir sie noch erreichen. Ruf doch mal an und bestelle zwei Tickets für Mr. und Mrs. Pinkerton.“
Während Mei Chen ans Telefon ging, stopfte Ross weiter Bündel für Bündel in die Reisetasche.
Als Mei Chen erledigt hatte, was er ihr aufgetragen hatte, war er mit seiner Arbeit ebenfalls schon beinahe fertig.
Zuletzt fiel ihm noch seine wertvolle Münzensammlung in die Hände. Davon wollte er sich selbstverständlich auch nicht trennen. Sie wanderte zu den Banknoten in die Tasche. Dann zog er mit einem schnellen Ruck den Reißverschluss zu und stieß erleichtert aus: „Fertig, Mrs. Pinkerton. Dem Start in ein neues Leben steht nichts mehr im Wege.“
Da irrte Montague Ross aber gewaltig.
Als er nach der prallgefüllten, schweren Reisetasche griff und sich umwandte, wusste er das sofort.
Ein ganz in Schwarz gekleideter Chinese stand in der Tür. Mei Chen und Ross hatten ihn nicht eintreten gehört. Als sie ihn nun bemerkten, erschraken sie bis in die Knochen, denn der schweigsame Unbekannte hielt einen Revolver mit aufgeschraubtem Schalldämpfer in der behandschuhten Rechten.
Montague Ross fasste sich als erster wieder.