Ganz langsam wandte sie den Kopf zu Mäxi herum.
»In einem Kaufhaus?«
»Wieso meinst du, dass ich euch in einem Kaufhaus gesehen haben soll?«
»Ich will es wissen«, schrie sie ihn an. »Auf der Stelle wirst du es mir sagen.«
»Reg dich doch nicht so auf. Nein, es war in keinem Kaufhaus. Draußen, irgendwo in einem Schwimmbad.«
»Schwör es mir«, sagte Karla mit tonloser Stimme.
»Das kann ich beschwören.«
»Und ich dachte, jetzt wüsste ich, wer uns beobachtet hat.«
»Du sprichst in Rätseln, Karla.«
»Das ist nicht schlimm.«
»Kannst du jetzt wieder arbeiten?«
Sie blickte ihn aus toten Augen an.
»Wenn mir heute ein Kerl zu nahe kommt, dann töte ich ihn.«
»Karla, du bist verrückt.«
Sie erzählte man von der Freundin, und wie viel sie ihr bedeutet hatte. Sie sprach auch über das kleine Mädchen und von der Sache, wie man es einfach fortgebracht hatte, und dass sie jetzt keinen Frieden mehr finden könne.
»Ich höre immer noch ihre Schreie. Ich kann nicht anders. Es ist so furchtbar. Vera wird keine Ruhe finden, ich weiß es. Sie muss doch wünschen, dass ich mich um Claudia kümmere, aber diese Bastarde lassen es nicht zu. Bloß weil ich eine Hure bin! Huren haben nämlich kein Herz, müsst ihr wissen. Sie sind nur ein Dreck, böse und kalt. Denen kann man ruhig das Herz rausreißen, und sie lachen noch.«
Die beiden Männer sahen sich ernst an.
»Es hat keinen Zweck«, sagte der Boss. »Sie muss sich erst wieder fangen. Geh nach vorn und beruhige die Gäste, Mäxi.«
»Wird gemacht.«
Mit Karla sprach er wesentlich freundlicher: »Hör zu, Karla, das hättest du mir gleich alles sagen sollen. Pass auf, du gehst jetzt auf deine Bude und legst dich hin. So kannst du dich auf keinen Fall auf der Straße sehen lassen. Und fahren kannst du schon gar nicht. Später reden wir dann weiter, ja?«
Sie lächelte müde.
»Danke«, sagte sie leise.
»So ist es schon besser. Jetzt bist du wieder meine alte Karla. Wir werden das Kind schon schaukeln.«
»Ich hasse sie alle.«
»Ja, du hast recht. Bullen sind ein Kapitel für sich.«
Sie schwankte aus dem Büro.
Mäxi blickte den Boss an.
»Ob sie wieder in Ordnung kommt?«
»Morgen muss sie arbeiten wie bisher.«
»Ich weiß nicht, das hat sie zu sehr mitgenommen. Sie wird noch eine Weile daran zu knabbern haben.«
»Geh jetzt, ich habe zu tun.«
Mäxi hatte in dieser Nacht seine Mühe mit Karlas Kunden. Sie wollten nicht begreifen, dass auch mal eine Dirne ausfiel, weil sie nicht arbeitsfähig war. Kristin, Rose und Franziska waren sauer, denn sie glaubten, Karla würde eine Extrawurst bekommen. Sie wussten ja noch nicht die Wahrheit, aber über den Mord sprachen alle.
12
Die Beerdigung von Vera Celler fand an einem regnerischen Tag statt. Da sie keine Familie hatte, waren nur ihre Kolleginnen gekommen. Es war eine traurige Beerdigung, und Karla hatte alle Mühe, nicht aufzuschreien. Sie starrte durch die tropfenden Bäume auf den Kommissar. Hoffte er womöglich, dass sich der Mörder hier einstellte? Suchte er ihn unter den Freunden? Doch Vera hatte ja kaum welche.
Karla kam sich wie betäubt vor. Sie konnte nicht anders, als ihr Leben verfluchen. Was sie auch anfing, es lief schief. Dabei hatte sie sich auf eine schöne Zukunft gefreut.
Nach der Trauerfeier setzte sie sich ab und stapfte verbissen zwischen den Grabreihen zum Ausgang. Verden kam hinter ihr her.
»Ich möchte dir etwas sagen.«
»Das ist mir egal. Mir ist alles wurscht, verstehst du, zieh Leine. Geh fort, ich kann dich nicht mehr ertragen.«
Verden hatte Verständnis für diesen Ausbruch.
»Ich wollte dir nur sagen, wo Claudia ist, Karla.«
Sie blieb mit einem Ruck stehen. Ihre Augen glühten.
»Ich habe mich erkundigt, du darfst sie besuchen. Sie wissen Bescheid. Ich habe veranlasst, dass du vorgelassen wirst.«
Plötzlich war wieder ein dicker Kloß in ihrer Kehle.
Ihre Augen schwammen.
Das war so ungeheuerlich, sie brauchte eine Weile, ehe sie sprechen konnte.
»Das werde ich dir nie vergessen«, brachte sie mit brüchiger Stimme heraus.
»Komm, ich bringe dich heim.«
Der Regen rann über ihr Gesicht.
Schweigend brachte er sie zur Wohnung.
»Pass auf dich auf, Mädchen. Ich will dich nicht als Nächste im Schauhaus sehen.«
»Danke für alles!«
Sie presste seine Hand.
»Schon gut.«
13
Karla war richtig aufgeregt. Sie durfte Claudia besuchen. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Sie wartete vier Stunden, dann machte sie sich auf den Weg. Vor dem Kinderheim verließ sie doch erst der Mut. Als sie sich dann meldete und die Nonne auf sich zukommen sah, bekam sie weiche Knie.
»Kommen Sie! Wenn Sie möchten, können Sie mit der Kleinen in den Park gehen.«
Der Regen hatte aufgehört.
Seit fünf Tagen lebte Claudia im Heim. Fünf schrecklich lange Tage. Sie begriff es einfach nicht Ihr kleines Herz war wund und weh. Was sie geliebt hatte, war ihr genommen worden. Sogar in eine neue Schule würde sie gehen müssen. Die ganze Zeit über hatte man das sensible Kind nicht trösten können. Kaum, dass es Nahrung zu sich nahm. Claudia saß nur in einer Ecke, sah vor sich hin und gab keine Antwort. Kinder können grausam sein. Wenn die Aufsicht nicht zugegen war, wurde sie von den anderen verspottet und geärgert. Sie taten es deswegen schon, weil sie sofort spürten, sie würde sich weder wehren, noch sie verraten. Auch jetzt fand die Nonne die kleine Claudia in ihrer Ecke und beugte sich über sie.
»Du hast Besuch, komm mit, Kleines.«
Sie reagierte nicht.
Die Schwester musste sie hochziehen. Bei sich dachte sie: Was wird aus ihr? Wir haben zu wenig Zeit, uns um solche Fälle zu kümmern. Seufzend führte sie das Kind auf den Flur. So musste man sie zum Essen zwingen und ins Bett. Willenlos stapfte sie mit traurigem Blick hinter ihrer Bezugsperson her.
Die Nonne wusste alles über Karla. Der Kommissar hatte offen mit ihr gesprochen. Er sagte sich, es ist besser, wenn sie gleich zu Anfang die Wahrheit wissen, als dass sie zufällig ans Tageslicht kommt. Die Nonne konnte sich nicht vorstellen, warum die Dirne die Kleine sehen wollte. Der Kommissar hatte es so bestimmt. Die Oberin hatte die Anweisung weitergegeben, also musste sie sich fügen. Dem Kind würde es ganz bestimmt nicht helfen.
Sie sollte sich gründlich irren.
Kaum war Claudia auf dem Flur, als Karla sie bemerkte und leise ihren Namen rief.
Das verstörte kleine Mädchen hob den Kopf, und dann schrie es auf, riss sich von der Nonne los und stürzte sich wie eine Ertrinkende auf