»Karla, noch kannst du zurück.«
»Ich weiß, aber ich muss diesen Weg gehen. Begreifst du das denn nicht?«
»Doch, aber es steht viel auf dem Spiel.«
»Ich weiß das und tue es trotzdem.«
Nun waren sie in der Direktion. Die Beamten hatten einen Plan ausgearbeitet.
Karla erhielt ein kleines Funkgerät, das sollte sie stets bei sich in der Tasche tragen.
»Es zeigt uns immer an, wo du bist. Wir sind in deiner Nähe, aber man sieht uns nicht. Wenn Gefahr droht, dann musst du diesen Knopf drücken, und wir kommen sofort. Hast du das verstanden? «
Das Gerät war klein und handlich.
»Sollen wir ihr eine Waffe mitgeben?«
»Nein«, sagte Karla mit fester Stimme. »Ich werde mit dem Hund schon fertig.«
»Karla, sei vorsichtig.«
»Klar, denn ich habe ja Claudia.«
Verden blickte sie eindringlich an. »Wann willst du anfangen?«
»Gleich heute. Wozu sollte ich noch warten?«
»Hals- und Beinbruch!«
»Ich habe jetzt alles bei mir und kann wohl gehen. Ich muss mich noch ein bisschen ausruhen und werde pünktlich um neun in der Strichstraße sein.«
»In Ordnung. Rufe uns vorher an, und wir setzen uns sofort in Bewegung.«
Man gab ihr die Direktwahlnummer, und dann ging sie fort. Sie durfte nicht direkt von der Polizei in die Strichstraße gehen. Es musste alles möglichst normal aussehen.
Karla suchte ihre Wohnung auf und war so nervös, dass sie gar nicht ruhen konnte. Wie ein gefangenes Tier lief sie hin und her. Immer wieder hörte sie Claudias Worte.
Sie machte sich ein kleines Abendbrot und musste an die Zeiten mit Vera denken. Das heulende Elend packte sie. Am liebsten hätte sie sich volllaufen lassen, um für eine Weile nicht denken zu müssen.
In den Straßen wurde es Nacht. Viele Leute saßen jetzt vor dem Fernseher und entspannten sich vom Arbeitstag. Der ihre fing erst an.
Sie telefonierte und meldete, dass sie gehen wollte.
Karla konzentrierte sich darauf, ob sie beobachtet wurde. Sie konnte sich gut vergewissern. Hier waren die Straßen noch breit. Es gab keine Haustore wie in den alten Quartieren. Das änderte sich schlagartig, als sie das Strichviertel erreichte. Die Straßen wirkten ärmlich und schmutzig. Sie lagen im Industrieviertel.
Karla wunderte sich, dass so wenig Tippelmädchen unter den Laternen standen. Ob die alle unterwegs waren? Sie zog die Schultern hoch und begriff jetzt so richtig, dass das Leben einer Strichbiene auf der Straße viel erbärmlicher war als ihre Arbeit in der Bar.
Kaum hatte sie sich aufgebaut, da erschien schon eine verkommene Frau. Sie hatte eine Fluppe im Mundwinkel, roch nach Schnaps, und taufrisch war sie auch nicht mehr.
»Mensch, dich hab’ ich ja noch nie hier stehen gesehen. Wie ist das, haste keine Angst?«
»Vor wem denn?«
»Nun, viele von den flüggen Küken getrauen sich doch nicht mehr ins Viertel. Die Luden stellen sie hier nicht mehr auf, von wegen abgemurkst zu werden und so weiter.«
»Ach, dann sind wir die einzigen?«
»Ne, aber wer jetzt steht, der macht das lange Geld«, grinste die Alte sie an.
Karla konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mann mit dieser Tülle loszog.
»Was ist, woher kommst du?«
Karla hatte keine Zeit, ihr Antwort zu geben. Es erschien in rasender Fahrt ein Fahrzeug auf der Straße. Drei Männer sprangen heraus. Ehe sie sich versah, packte sie jemand und warf sie ins Auto. Die Tasche wurde ihr abgenommen, an Alarm war nicht mehr zu denken. In einem Höllentempo ging es zu einigen verfallenen Schuppen am Rande der Stadt. Da wurde sie aus dem Wagen gezerrt und in eine Halle geschleift. Ihr Herz schlug wild, aber sie hatte seltsamerweise keine Angst. Sie wusste, der Mörder konnte es nicht sein, denn er arbeitete still und lautlos. Was dies zu bedeuten hatte, war ihr noch nicht klar.
»Boss, hier ist sie.«
Ein großer, schlanker Mann löste sich aus dem Hintergrund und kam auf sie zu. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber sie fürchtete sich vor seinen eiskalten Augen.
Er grinste sie böse an.
»Du hast also gedacht, der Strich ist unbewacht, wie?«
Karla war verwirrt.
»Was wollt ihr von mir?«
»Die Fragen stellen wir. Wenn du uns nicht auf jede Frage eine Antwort gibst, wirst du uns kennenlernen. Beeilen wir uns, du bist dann bald wieder frei, einverstanden.«
Sie war noch immer baff.
»Wer schickt dich?«
»Niemand! Was wollt ihr eigentlich von mir?«
Sofort schlug man ihr ins Gesicht. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen.
»Ich habe dir gesagt, ich will die richtige Antwort hören.«
»Wer seid ihr?«, stammelte sie.
Die beiden Männer an ihrer Seite hielten sie im Griff. Sie konnte nicht einmal die Tränen abwischen.
Der Großlude kniff die Augen zusammen.
»Soll das etwa heißen, dass du keine Hure bist?«
»Schon«, sagte sie zögernd.
»Hast du einen Luden? «
»Das war einmal.«
»Sein Name!«
»Hanko heißt er.«
»Du bist Hankos Mädchen gewesen? «
»Ja, jetzt arbeite ich in einer Bar. Ich bin keine Strichmieze, wenn ihr das glauben solltet.«
»Zufälligerweise haben wir dich aber auf dem Strich angetroffen, Süße.«
»Das stimmt, aber ich will da nicht stehen, ich schwöre es.«
Langsam begriff sie, was das zu bedeuten hatte. Gehört hatte sie schon davon, wie gefährlich die Luden wurden, wenn man ihnen ins Gehege kam.
»Ach, und was hast du dort gemacht?«
»Ich bin ein Lockvogel.«
Sie lachten brüllend.
»Das sind alle unsere Mädchen, Kleine. Mit deinen dummen Sprüchen kommst du nicht weit. Und jetzt die Wahrheit, wer hat dir gesagt, dass du dich hier auf bauen sollst?«
»Verden, der Kommissar.«
Die Luden zuckten zusammen.
»Meinst du vielleicht den Bullen Verden?«
»Ja, genau den.«
»Seit wann hat der Pferdchen laufen?«
»Ich laufe nicht für ihn«, schrie Karla. »Kapiert ihr denn noch immer nicht? Ich bin der Lockvogel, und es ist vielleicht schon alles zu spät.«
»Lockvogel, für wen?«
»Für den Mörder, verflucht noch mal!«
Der Großlude gab den Männern einen Wink. Sie ließen das Mädchen los.
»Soll das heißen, du willst den Mörder fangen?«
»Ja, davon rede ich doch die ganze Zeit.«