In all den Jahren. Barbara Leciejewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Leciejewski
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783862823727
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hatten, und von Filmaufnahmen. Ich musste nichts weiter tun, als neben ihr zu sitzen und zuzuhören. Und während ich ihren Erzählungen folgte und sie dabei beobachtete, wie sie in der Vergangenheit schwelgte, tat sie mir noch mehr leid. Wie oft hatte sie wohl jemanden, mit dem sie das alles teilen konnte, ihr Leben, oder das, was davon geblieben war? Sie schien mir selbst ein bisschen wie diese Villa, alt und verlassen, nur noch eine Erinnerung an verblassten Glanz.

      Plötzlich bemerkte ich, dass Finn neben mir stand. Wie lange schon, wusste ich nicht. Als ich zu ihm hochsah, lächelte er kaum merklich.

      „Ich wäre dann soweit“, sagte er. Dann gab er der alten Dame die Hand und sagte: „Vielen Dank für alles, Frau Goldstein. Ich komme morgen noch einmal vorbei. Wegen der Bilder.“

      „Dann trinken wir noch einen Kaffee, ja?“, sagte sie strahlend und umfasste seine Hand mit ihren beiden Händen, bis er zustimmte.

      „Es war sehr nett, Sie kennenzulernen“, sagte ich und reichte ihr ebenfalls die Hand.

      „Oh ja, mich hat es auch gefreut“, sagte sie herzlich. „Sie können mich gerne einmal besuchen, wenn Sie gerade nichts anderes zu tun haben. Oder wenn Sie mal Lust haben, mit einer tütteligen, alten Frau zu quatschen.“ Sie lachte dabei und ich sagte, ich würde sie sicher einmal besuchen, wenn ich dürfte. Ich meinte es in diesem Augenblick wirklich so, obwohl mir klar war, dass ich diesen Entschluss wahrscheinlich wieder vergessen würde. Man sagte es eben.

      Die Villa hatte sich weitgehend gelehrt. Die meisten Leute hatten sich inzwischen andere Orte gesucht, um ins Nachtleben einzutauchen, oder waren einfach nach Hause gegangen. David sah ich ebenfalls nirgendwo mehr. Aus Finns Bemerkungen konnte ich meine Rückschlüsse ziehen und verzichtete darauf, mir vorzustellen, womit er sich gerade beschäftigte. Ich mochte David. Als Mensch und Kollegen. Was er als Mann so tat, ging mich nichts an.

      Finns Wagen stand nicht in der Einfahrt, sondern an der Straße. Es war ein sehr großer, alter, geschlossener Pickup.

      Im Gegensatz zu David dachte Finn nicht daran, mir die Tür aufzuhalten, aber immerhin räumte er den Beifahrersitz von all dem Zeug frei, das dort herumlag. Er warf es nach hinten zu dem Zeug, das auf dem Rücksitz lag.

      „Das ist nicht mein Auto“, sagte er.

      „Ach so“, sagte ich und hoffte, dass er dieses Riesengefährt wenigstens fahren konnte.

      Den Gruß vom Getriebe beim Start nahm er zumindest so gelassen hin, als hätte er damit bereits Routine, dann bog er direkt in die Mauerkircherstraße ein.

      Finn war ein unaufgeregter und sicherer Fahrer – und ein schweigsamer. Er machte keine Anstalten, ein Gespräch zu beginnen. Warum hatte er mich dann nach Hause fahren wollen? Ach ja, weil wir im gleichen Haus wohnten.

      Er schien die Stille nicht im Geringsten unangenehm zu finden, ich schon. So vertraut waren wir nun auch wieder nicht, dass wir uns erlauben konnten, gemeinsam zu schweigen.

      „Frau Goldstein ist sehr nett“, war das Erste, was mir einfiel.

      „Ja!“, stimmte er mir zu und hupte einen schwarzen BMW vor uns an, der die Straße blockierte, weil eine langbeinige Blondine daneben stand und sich bei aufgerissener Tür mit dem Fahrer unterhielt. Sie warf Finn nur einen gelangweilten Blick zu und nahm sich Zeit für ein paar weitere Worte.

      Finn kurbelte die Scheibe herunter und brüllte „Geht’s noch?“, dann ließ er den Motor aufheulen, was dem Knurren eines tollwütigen Wolfes gleichkam. Der Fahrer, der sich wohl Sorgen um seinen Wagen machte – schließlich war der Pickup um einiges gewaltiger als der BMW – machte hektische Gesten, die gleichzeitig der Blondine und uns galten, woraufhin die Frau die Tür zuschlug, vom Auto zurücktrat und uns den Mittelfinger zeigte. Ich zeigte spontan zurück.

      Der BMW vor uns fuhr los und Finn trat ebenfalls wieder aufs Gas.

      „Typisch BMW!“, entfuhr es uns wie aus einem Munde. Wir lachten und schimpften noch ein wenig weiter auf die teuren Autos dieser Welt und ihre Fahrer.

      Dann bogen wir auf die Montgelasstraße ein und fuhren kurz darauf über die Max-Joseph-Brücke, die im Glanz der Lichter erstrahlte. Ich liebte München bei Nacht, die Atmosphäre dieser Großstadt, die irgendwie so gar nichts Großstädtisches an sich hatte. Ich liebte die Isar und ihre Brücken, besonders die in meinem Glockenbachviertel. Ich konnte stundenlang auf einer Brücke stehen, hinter mir den Verkehr vorbeisausen lassen und die Isar hinuntersehen. Und natürlich liebte ich den Englischen Garten, in dem wir jetzt direkt beim Chinesischen Turm gelandet wären, wenn wir noch wenige hundert Meter geradeaus gefahren wären. Doch gleich hinter der Brücke bogen wir nach links Richtung Innenstadt ab.

      „Worüber hast du dich mit Frau Goldstein unterhalten?“, fragte Finn, während wir an der Ampel hielten.

      „Sie hat mir sozusagen ihre Lebensgeschichte erzählt“, sagte ich.

      „Und welche?“, fragte er.

      „Wie, welche?“ Ich verstand die Fragestellung nicht.

      „Sie erzählt oft ihre Lebensgeschichte, sie erzählt sie nur fast jedes Mal anders“, erklärte er. Es klang ganz sachlich, ohne jedes Urteil oder gar Häme.

      „Tatsächlich?“ Ich war verblüfft. Frau Goldstein hatte einen sehr aufrichtigen Eindruck auf mich gemacht.

      „Sie erzählt fast immer von ihrem Mann“, erklärte Finn. „Nur, einmal war er ein Widerstandskämpfer, ein andermal ist er im KZ gestorben. Oder er musste vor den Nazis fliehen und sie hat ihn nie wieder gesehen. Mal so, mal so.“

      „Sie sagte, er starb im KZ und sie war in Dachau, weil sie sich nicht von ihm scheiden lassen wollte“, sagte ich.

      Finn nickte. „Ich nehme an, sie weiß selbst nicht mehr so genau, wie es war“, meinte er.

      „Die Arme!“, sagte ich, denn ich konnte mir vorstellen, dass er damit richtig lag.

      „Und von wem hat sie nun das Haus? Sie sagte erst, es hätte ihrem Mann gehört, und dann hat sie davon erzählt, wie sie als Kind mit ihren Eltern dort gelebt hat.“

      „Keine Ahnung“, antwortete Finn. „Sie ist ein bisschen mysteriös.“ Er grinste verschmitzt und ich lachte.

      „Aber auch irgendwie cool“, fügte er hinzu. „Sie ist total aufgeschlossen und unheimlich gebildet. Und sie weiß wirklich viel über Malerei. Viel mehr als ich.“

      „Hast du schon öfter dort ausgestellt?“, fragte ich.

      „Heute war das zweite Mal“, antwortete er. „Zum ersten Mal, als ich mit dem Studium fertig war. Das hat mir die ersten Jobs verschafft. Davids Bruder war mein Professor.“

      „Du hast David durch seinen Bruder kennengelernt?“

      „Umgekehrt. Durch David bin ich damals erst an der Akademie gelandet. Lange Geschichte.“

      Zu lang offensichtlich, denn wir hatten unser Viertel bereits erreicht. Finn musste sich jetzt konzentrieren, um mit dem Riesenwagen unfallfrei durch die kleineren Straßen zu fahren. Hier einen Parkplatz zu finden, würde ein Abenteuer werden, überall standen die Autos dicht an dicht. Doch zu meiner Überraschung bog er plötzlich in eine Einfahrt ein. Langsam lenkte er den Wagen durch das Tor. Links und rechts waren höchstens ein paar Zentimeter Platz. Unwillkürlich hielt ich die Luft an, aber schließlich standen wir im Innenhof. Finn bat mich auszusteigen, öffnete danach das Tor zu einer Garage und fuhr hinein. Obwohl er auf der Beifahrerseite fast die Wand berührte, konnte er sich selbst nur noch knapp aus der Fahrerkabine herauszwängen.

      „Das Auto ist ein Monster“, sagte er und steckte die Schlüssel in seine Hosentasche.

      Unser Haus befand sich in der Nebenstraße und so mussten wir noch einige Schritte laufen. Ich bereute, dass ich keine Jacke dabei hatte. Es war zwar schon Anfang Juni, aber die Nächte waren noch recht frisch und ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich erst spätabends nach Haus kommen würde. Als ich die Arme um meinen Körper schlang und schaudernd die Kälte abzuschütteln versuchte, zog Finn ohne Zögern