Oder etwa Julian mit seinen dunklen Locken und dem aufgesetzten Kifferlächeln? In der Mathestunde gestern hatte der erst ein paarmal wie wild mit einem Stift auf sein Arbeitsblatt eingestochen und war dann für den Rest des Tages spurlos verschwunden. Den konnte ich also auch vergessen.
»So, Leute«, verkündete Herr Pfeiffer, bei dem wir an diesem Donnerstag unsere erste Motivationsstunde hatten. »Zeit für eine Runde Wünsch dir was! Was möchtet ihr heute in fünf Jahren machen? Wer wollt ihr sein? Was auch immer euch in den Sinn kommt, schreibt es auf diese Zettel und schmeißt die Zettel in den Topf dort.« Er platzierte einen Schwung bunter Papiere inmitten unseres Sitzkreises und blickte aufmunternd in die Runde.
Ich griff nach einem Zettel und keine Minute später war ich als Erste fertig, ich wusste ja schließlich, was ich werden wollte.
»Tariq«, schaltete sich Herr Pfeiffer irgendwann wieder ein, als endlich auch die Letzten irgendwas zu Papier gebracht hatten, »zieh doch bitte den ersten Lebenstraumzettel und lies ihn vor!«
»Zero Problemo.« Tariq schlurfte lässig nach vorn und fischte einen Zettel heraus. »Lo…tto…millio…när!«, entzifferte er mühsam die offensichtlich krakelige Schrift. »Yo, Alder, dann gönn dir von der Kohle aber auch ein paar Schönschreibkurse!«
»Vor-le-sen. Nicht kommentieren«, unterbrach Herr Pfeiffer seufzend das aufkeimende Gekicher und rief den ewig schlecht gelaunten Punk Max nach vorn.
Der zog den nächsten Zettel und starrte ungläubig darauf. »Ein Haus und eine Familie«, las er schließlich laut vor, murmelte was von »Spießerscheiß« und kehrte zu seinem Platz zurück.
In dem geistreichen Stil ging es dann immer weiter:
»Topmodel? – Sorry, keine Chance für die anwesenden Damen«, kicherte Gustav, der rundliche Typ im Pullunder.
Tischler mit eigener Schreinerei – »Arbeiten ist scheißöööö!«, tönte es von schräg hinten.
Und dann las Julian meinen Zettel vor: »Mediengestalterin?« Er blickte skeptisch auf. »Vielleicht ein bisschen übertrieben für diese Runde hier?«
Übertrieben? Ich warf ihm einen verärgerten Blick zu.
Dann ging Justin, der Skinhead, nach vorn und plötzlich hatte ich ganz andere Probleme. Langsam und genüsslich las er ab, was irgendein Trottel, wahrscheinlich er selbst, hingekritzelt hatte: »Zuckendes und bellendes Geisterbahnmonster.«
Alle Blicke trafen sich bei mir.
Tja, und das war’s dann. Luzifer wurde natürlich sofort aktiv, dabei war er heute halbwegs friedlich gewesen. Bis jetzt.
Schon grölte der Erste los und immer mehr Lacher kratzten an meinem Trommelfell.
Reflexartig zog ich die Kapuze über den Kopf. Der Pony reduzierte mein Panorama noch zusätzlich. Fast fühlte es sich an, als säße ich unsichtbar in einem schützenden Kokon – aber eben doch nur fast. Deshalb braute sich auch ein Gewitter zusammen, das kurz vor der Entladung stand.
Wut und Luzifer, das war eine sauschlechte Kombination.
Noch gelang es mir halbwegs, ihn zu unterdrücken. Doch er zuckte – ich zuckte, schnalzte und schlug mir mit der Faust gegen die Schulter. Und damit würde sich Luzifer nicht zufriedengeben. Was gäbe ich drum, ihn jetzt zum Schweigen bringen zu können. Dem Idioten, der den Zettel geschrieben hatte, keinen Triumph zu gönnen. Doch es half nichts, Luzifer ließ mich laut bellen und schnalzen und dazu heftig zucken.
Die Lacher echoten körperlos tausendfach durch den Raum.
Bitte, lass wenigstens niemanden die Tränen hinter dem Pony sehen, betete ich im Stillen.
Trotzdem war ich ein bisschen stolz auf mich: Dieses Mal harrte ich eisern im Raum aus. Wartete einfach darauf, dass Luzifer müde wurde. Leider dauerte es länger, als ich erwartet hatte.
Irgendwann blickte ich auf – und sah nur noch Herrn Pfeiffer im sonst leeren Raum. Ich hatte anscheinend alles radikal ausgeblendet. So sehr, dass ich das Abebben des Gelächters – und sogar das Ende der Stunde – nicht einmal mitbekommen hatte.
»Liza?« Herr Pfeiffer schaute mich fragend an. »Komm mal mit in mein Büro.«
Mit einem reichlich unguten Gefühl tappte ich hinter Herrn Pfeiffer her.
Nachdem er mich in sein Büro dirigiert hatte, verschwand er noch einmal kurz, um Kaffee zu holen.
Nervös rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Um mich etwas zu beruhigen, ließ ich den Blick schweifen – und betrachtete leicht verwundert Herrn Pfeiffers Besprechungstisch: Kreuz und quer darüber verteilt waren jede Menge Miniaturmotorräder. So, als hätten ein paar Rockerzwerge sie mal eben dort abgestellt. Im krassen Gegensatz dazu wirkte der Schreibtisch absolut pedantisch: Exakt ausgerichtete Papierstapel lagen dort genau parallel zueinander und in gleichmäßigen Abständen. Ein sauberer Radiergummi, ein Spitzer und ein angespitzter Bleistift befanden sich – der Größe nach sortiert! – fein säuberlich an der rechten Seite des Tisches. Es reizte mich, von diesem geometrischen Kunstwerk ein Foto zu machen. So ein Schreibtisch traf genau meinen Geschmack.
Ich zuckte zusammen – hinter mir war die Tür zugefallen. Herr Pfeiffer nahm gegenüber von mir Platz und schob eine der beiden Kaffeetassen zu mir. Mein Stresslevel stieg wieder. Ich wartete, die Augen auf einen blauen Chopper geheftet, auf das, was nun kommen würde.
»Hör zu, Liza … das eben mit der Geisterbahn …«, startete Herr Pfeiffer – zu meiner Überraschung wirkte er fast ein wenig verlegen, »… das war … ziemlich heftig«, fuhr er fort. »Ich glaube, es war ein Fehler, mit den anderen nicht über deine … Krankheit zu sprechen. Einige deiner Mitschüler wirken einigermaßen überfordert.«
Überfordert? Das war aber eine nette Umschreibung. Luzifer ließ meinen Kopf zucken und das linke Auge zusammenkrampfen, bis meine Umgebung unscharf wurde. Er war wie immer ausgesprochen aktiv, wenn so über ihn geredet wurde.
»Ich hatte bisher noch keine Teilnehmerin, die … also ich meine … also so wie dich.«
Obwohl er ziemlich unbeholfen wirkte, schwang hinter seinen Worten etwas wie Wärme und Bemühen mit. Nach dem ganzen bisherigen Mist war das immerhin ein kleiner Lichtblick.
»K-kein P-P-Problem«, sagte ich, doch mein Zucken strafte mich im selben Moment Lügen.
»Die Sprüche der anderen …« Herr Pfeiffer sah mich ernst an. »Das geht so nicht weiter, dafür sorge ich.«
»D-d-das ist normal«, stammelte ich und bellte zweimal.
Oh, Mann, war das alles furchtbar. Das war so unendlich peinlich!
Herr Pfeiffer, der trotz seines wilden Outfits gerade milde wie Balou der Bär wirkte, tat einfach so, als habe er nichts gehört.
»Normal ist so ein Verhalten nicht«, sagte er schließlich langsam. »Zumindest nicht in meinem Kurs. Lass uns mal überlegen, was dir helfen kann.«
»Ich brauche keine S-S-Sonderregeln, ich schaffe das! Es sind doch nur diese sechs Stunden am Tag. Nur noch insgesamt …« Ich musste kurz überlegen, denn ich hatte heute Morgen noch die Zahl in meinem Kalender aktualisiert. »… 1 072 Schulstunden übrig. U-u-und davon gehen noch die Praktika ab. Also alles okay!« Mein zögerliches Lächeln fühlte sich matt an, mein Blick huschte rasch zu meinen Händen, damit er nicht die Unsicherheit in meinen Augen bemerkte.
»Liza, du musst vor mir nicht so tun, als würde dir das alles nichts ausmachen«, sagte Herr Pfeiffer sanft.
Ich spürte, wie sich jener Druck in mir aufbaute, den ich eigentlich nie mehr spüren wollte. Die ganze Verzweiflung und die Wut wegen des Tourette-Syndroms – verdammt, warum konnte ich nicht cooler damit umgehen, so wie andere Leute mit Tourette?
Dennoch wagte ich es jetzt doch, den