Kaum, dass das Wort im Raum verhallt war, begann das Mädchen mit den schwarzen Klamotten wieder zu zucken. Doch dieses Mal wirkte es sogar total euphorisch. Anscheinend gefiel ihr das mit der Medienschule.
Der Typ in der Holzwerkstatt, zu dem Knöpfle uns dann brachte, war irgendwie schräg: um die sechzig. Flusige, schulterlange graue Haare, die er – als wäre das nicht übel genug – auch noch zu einem rattenschwanzähnlichen, dürren Zopf gebunden hatte. Dazu: drahtiger Bizeps in einem verblichenen, schlackernden Muskelshirt und fliederfarbene Latzhose.
»Hallo, die Bande, mein Name ist Hugo!«, rief er fröhlich und hob grüßend seine nicht mehr ganz vollständigen Hände in die Höhe.
»Wie ihr seht, gebe ich alles fürs Holz«, kicherte er und wackelte mit den ihm noch verbliebenen Fingergliedern.
Dann bekamen wir von ihm und Knöpfle eine Grundeinweisung in das Arbeiten an der Werkbank. Ziemlich sinnlos, wie ich fand.
Das reichlich aufgedonnerte Mädchen neben mir sah es anscheinend ähnlich. »Hey, ich bin Elvira«, flüsterte sie mir lächelnd zu.
»Glückwunsch«, gab ich wortkarg zurück.
Sie schnaubte beleidigt. Dann schob sie sich mit einer Arschbacke auf den Kreissägentisch, checkte ihr Dekolleté und startete den Selfiemodus ihres Smartphones.
Katzengleich schlich Hugo sich heran, setzte mit einem geschmeidigen Drehen eines Schalters die Kreissäge in Gang – und löste damit ein Kreischduett von Beautyqueen und Säge aus.
»Regel Nummer eins«, sagte Hugo gelassen, nachdem Maschine und Sirene allmählich wieder zur Ruhe gekommen waren. »Nie auf Werkbänke und elektrische Geräte setzen. Ich kannte mal eine, die …«
Knöpfle atmete tief durch und schaute Hugo warnend an.
»Okay, das gehört nicht hierhin …« Er riss sich zusammen, grinste jedoch so sehr vor sich hin, dass ich gerne mehr gewusst hätte.
Nach Hugos Werkstatteinweisung starteten bei der Knöpfle unsere so genannten »Förderkurse«.
»Also«, begann sie, »ich habe die Tests kontrolliert. Die Auswertung bekommt ihr jetzt und außerdem das hier …« Sie gab jedem von uns einen Stapel Übungsmaterial. »… individuell zusammengestellt«, erläuterte sie mit einem fast entschuldigenden Blick in meine Richtung.
In Mathe war ich auf 7 von 120 Punkten gekommen. Okay, das war nicht wirklich überraschend. Aber dass ich im Aufsatz eine ähnliche Nullnummer fabriziert hatte, kratzte mich schon sehr. Vielleicht lag es daran, dass ich gestern mal wieder keinen einzigen klaren Gedanken hatte fassen können?
Ernüchtert schnappte ich mir die für mich persönlich zusammengestellten Matheübungsblätter – und zuckte angewidert zurück: Auf dem Deckblatt schritten ein Minus- und ein Pluszeichen Arm in Arm lächelnd in meine Richtung. Es war, als wollten sie mich fragen: »Naaa? Hast du eine Idee, warum wir so drollig illustriert auf dich zumarschieren? Das liegt daran, dass diese Arbeitsblätter eigentlich für Siebenjährige sind, und die stehen auf solche wie uns!«
Scheiß Kobolde, dachte ich wütend und tötete sie mit gezielten Bleistiftstichen.
»Hey, Alter … es reicht. Eine Irre genügt«, grunzte der Skinhead vor mir. Auch andere glotzten irritiert in meine Richtung und ausgerechnet Liza schüttelte nur schweigend den Kopf. Dabei sollte die doch nun wirklich Verständnis für solche … Ausbrüche haben.
Oder vielleicht auch nicht. Irgendwie schien sie eher so der Typ nerviger Überflieger zu sein – auch jetzt löste sie schon eifrig erste Aufgaben.
Als sich alle endlich wieder Interessanterem als meinem Zahlenmord zuwandten, blickte ich mich verstohlen um. Lagen auf den übrigen Tischen eigentlich auch solche peinlichen Zweitklässlerblätter? Ich konnte nirgendwo welche entdecken und platzierte meinen Rucksack reflexartig so, dass keiner die Übungsaufgaben vor mir erkennen konnte.
Julian … du bist so ein Versager!
Wie aus dem Nichts hörte ich plötzlich die Stimmen von früheren Klassenkollegen, manchen Lehrern und allen voran: meinem lieben Vater.
… ein Idiot … selbst zu dumm für diese Quali … der Dümmste der Dummen ging es weiter.
Und dann passierte es. Ich schrumpfte, schrumpfte, schrumpfte und schien meinem Körper zu entweichen.
»Sorry … ich muss mal aufs Klo«, stammelte ich Richtung Knöpfle und schob mich an den anderen vorbei. Leicht wankend lief ich aus dem Klassenraum zu den Toiletten. Dort angekommen spritzte ich mir erst mal am Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht und lehnte mich an die geflieste Wand.
Ganz langsam atmete ich tief ein und aus.
Ich hatte echt gedacht, diese Zeiten wären vorbei. Die Zeiten von Panikattacken. Die Zeiten, in denen die Meinung anderer mich so fertigmachte.
Ausgeschlossen, dass ich jetzt wieder in den Klassenraum reinging.
Wenigstens auf meine Beine war in solchen Momenten Verlass, sie wussten von ganz allein, was zu tun war, und lenkten mich einfach aus der Halle heraus und runter vom Qualigelände in Richtung Heimat.
Doch mein Flashback hatte mich immer noch so heftig in seinen Klauen, dass ich mich hoffnungslos verlief und am Ende auch noch die falsche Bahn nahm.
Erst satte zwei Stunden später schloss ich die Tür zu meiner Wohnung auf. Ich zog den Tabak samt seinen feinen Zutaten aus dem Versteck und baute mir eine stattliche Tüte des Vergessens. Dann drehte ich Jimi Hendrix auf, ließ mich aufs Sofa fallen und sehnte den lila Nebel herbei.
Liza
4 Die Nachricht, dass es eine Projektarbeit in Kooperation mit Mediosos gab, hatte mich gestern total umgehauen. Ein Ausbildungsplatz dort war mein größter Wunsch – den zu bekommen allerdings so wahrscheinlich wie ein Lottogewinn, denn es war die Kölner Topadresse für die Ausbildung zur Mediengestalterin. Ihre Internetseite hatte ich schon tausendmal durchforstet und beim Tag der offenen Tür dort fast die ganze Zeit im Videoraum und in den Studios verbracht. Unfassbar, dass sich nun vielleicht doch noch eine Möglichkeit auftat, selber einmal in diesem Hightechparadies von echten Profis lernen zu können. Denn wer weiß, vielleicht könnte ich ja dank einer super Projektarbeit auch trotz meiner ätzenden Schulzeit noch eine Chance dort haben. Das wäre der Wahnsinn, denn zu filmen und dann zu schneiden – das war, seit ich vor zwei Jahren an einem Videoworkshop teilgenommen hatte, zu meiner großen Leidenschaft geworden, besonders diverse Spielereien mit Perspektivwechseln und technische Verfremdungen des Materials in der Nachbearbeitung …
Und selbst wenn es mit Mediosos nicht klappen sollte, hing ziemlich viel davon ab, ob wir eine einigermaßen vernünftige Projektarbeit zustande brachten: Wir würden eine Beurteilung dafür bekommen, mit der wir uns um Praktikumsplätze bewerben sollten. Wer nichts Gutes liefern würde, hätte deshalb auch eine deutlich geringere Chance auf gute Praktika.
Seit ich von dem Projekt erfahren hatte, scannte ich deshalb permanent die übrigen Teilnehmer ab. Nicht, dass ich mir groß Hoffnungen machte – denn wer aus dieser Freakshow würde sich schon auf eine Gruppenarbeit einlassen? Die hatten hier doch alle null Lust auf nichts!
Gut, ich gebe zu – streng genommen kannte ich die potenziellen Kandidaten eigentlich noch gar nicht. Aber das war ja auch nicht der Punkt. Ich musste die nicht erst besser kennenlernen. Ich wusste auch so: Von denen passte definitiv keiner.
Ich meine … Scherzkeks Tariq, der würde wohl kaum irgendwas Ernstes zu Papier bringen.
Das