„Haben Sie die Frau noch einmal gesehen?“, fragte Milo.
„Da bin ich mir nicht sicher.“
„Wieso?“, fragte ich. „Entweder Sie haben Sie noch einmal gesehen oder nicht. Da gibt es doch eigentlich nichts dazwischen.“
Norman seufzte hörbar. „Ich habe doch sowieso nur ihre Haare gesehen, weil ihr Gesicht auf seiner Schulter lag oder wie auch immer man das nennen will. Einige Zeit später habe ich ihn mit einer jungen Frau mit ähnlicher Haarfarbe gesehen. Es könnte von den Proportionen her dieselbe gewesen sein – aber das weiß ich nicht.“
Immerhin hatten wir einen Zeugen dafür, dass Roy Anselmo ein ausgeprägtes Interesse an Rothaarigen hatte. Ohne es zu wissen hatte uns Norman damit ein weiteres Mosaikstein in einem Muster geliefert, das Anselmo als verdächtig erscheinen ließ. Es passte anscheinend alles zusammen.
„Haben Sie irgendetwas von dem mitbekommen, was hier drinnen gesprochen wurde?“
„Nein, viel geredet wurde da nicht. Und mich hat auch gewundert, wie leise der Kerl mit seinen Eroberungen beim Sex war. Bei den Nachbarn auf der anderen Seite meiner Wohnung hört man nämlich alles. Aber vielleicht ist ja bei Anselmo in dieser Hinsicht auch nicht mehr so viel gelaufen, weil die Damen schon zu betrunken waren… Hat Anselmo irgendetwas verbrochen?“
„Das wissen wir nicht“, wich ich aus.
„So kann man sich doch in einem Menschen täuschen. Ich habe ihn für harmlos gehalten.“
In der Nachbarwohnung klingelte das Telefon. Der Beweis dafür, dass Normans Aussage von der Hellhörigkeit der Wände stimmte.
Für den alten Mann war das das Signal aufzubrechen. Er humpelte aus der Wohnung hinaus und bot uns an, später noch einmal bei ihm vorbeizuschauen.
„Am besten Sie beeilen sich jetzt erst einmal, dass Sie zum Telefon kommen!“, sagte Milo.
„Ach, das ist um diese Zeit wahrscheinlich mein jüngster Sohn Brian. Der weiß, dass ich schlecht zu Fuß bin und lässt den Apparat entsprechend lange klingeln.“
25
Mein Handy klingelte. Captain Josephson meldete sich aus Mac’s Bar. „Wo sind Sie, Agent Trevellian?“, fragte er.
„Nur ein paar Minuten entfernt!“
Ich gab ihm Anselmos Adresse durch. „Und sagen Sie dem Erkennungsdienst Bescheid“, fügte ich noch hinzu. „Hier ist zwar sehr gründlich saubergemacht worden, aber in der Regel finden die Kollegen trotzdem etwas.“
„Haben Sie eigentlich mal bedacht, dass Sie dafür einen richterlichen Befehl brauchen?“, fragte Josephson etwas ungehalten. „Sie sind immerhin in eine fremde Wohnung eingedrungen.“
„Die Tür stand offen. Mister Anselmo ist hier offensichtlich ausgezogen, das heißt der Vermieter hat wieder die Verfügungsgewalt über das Apartment“, entgegnete ich. „Und wenn ich den davon überzeuge, dass es dringend notwendig ist, hier eine erkennungsdienstliche Untersuchung durchzuführen, ist das rechtlich in Ordnung.“
Josephson unterbrach die Verbindung.
„Hast du überhaupt eine Ahnung, wer der Vermieter ist?“, fragte Milo.
„Nein, aber das werden wir herausfinden, indem wir uns bei den anderen Bewohnern dieses Hauses erkundigen.“
26
Roy Anselmo legte seine Reisetasche auf den Boden und setzte sich auf das Bett.
„Es wird hier nicht geraucht“, hörte er die junge Frau sagen, die ihm das Zimmer geöffnet hatte. Sie hatte blondes Haar mit einem deutlichen Rotstich.
„Schon in Ordnung“, murmelte Anselmo.
„Sie haben für drei Nächte im Voraus bezahlt, aber wenn Sie für eine ganze Woche bezahlen, bekommen Sie Rabatt.“
„Ich weiß aber nicht, ob ich noch eine ganze Woche in der Stadt bleibe“, erwiderte Anselmo. Er sah sie an und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Sie krampften sich so sehr zusammen, dass an den Knöcheln das Weiße hervortrat. Du musst es tun!, wisperte eine Stimme in seinem Innern. Jetzt. Sofort.
„Nein!“, sagte er laut und die junge Frau runzelte die Stirn, weil sie nicht begriff, dass das etwa war, das er zu sich selbst sagte und nicht zu ihr.
„Was meine Sie mit nein?“, fragte sie. „Sind Sie Raucher? Dann tut es mir leid. Unter diesen Umständen muss ich Sie bitten…“
„Ich bin kein Raucher“, sagte Anselmo. Er schwitzte. „Und jetzt lassen Sie mich bitte einen Augenblick allein.“
Sie sah ihn etwas verwundert an. Ihre Augenbrauen zogen sich in der Mitte zusammen.
„Ist Ihnen nicht gut? Soll ich einen Arzt holen?“
„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich möchte nur, dass Sie mich jetzt allein lassen.“
Die junge Frau verließ das Zimmer. Bilder erschienen vor seinem inneren Auge. Erinnerungen. Erinnerungen. Er war ein Kind. Und da saß diese große Frau mit den roten Haaren auf dem Sofa. Ihre Haare waren nicht wirklich rot. Sie färbte sie nur. Er hatte das schon mal gesehen, wie sie das machte. Aber sie konnte das nur, wenn sie nicht so viel getrunken hatte wie jetzt. Jetzt konnte sie nicht einmal aufstehen. “Du musst es tun!“, hörte er ihre Stimme. Diese Stimme, die ihn seit jener Zeit nie verlassen hatte und die immer diesen einen Satz sagte - manchmal so undeutlich, dass wohl niemand anders ihn verstanden hätte.
„Nein!“, sagte Roy Anselmo laut in das Zimmer der heruntergekommenen Absteige hinein. „Nein!“
Aber die Stimme aus der Vergangenheit war unerbittlich. Du musst es tun! Sonst halte ich es nicht aus! Bitte!
Er erinnerte sich daran, den Rest an Dollars aus ihrem Portemonnaie geholt zu haben und losgegangen zu sein. Der Laden an der nächsten Ecke gehörte einem Bekannten, der es gewohnt war, dass er für eine Mutter etwas zu trinken holte, auch wenn das eigentlich nicht erlaubt war. Dann ging er mit den Flaschen zurück und brachte sie ihr. Sie trank und lallte und trank noch mehr. Und irgendwann war es dann Stille gewesen. Sie hatte sich nicht mehr bewegt und ihre Augen waren ganz starr gewesen.
Er hatte nicht wegsehen können.
Dieses Gesicht… Etwas war seitlich aus ihrem Mund herausgelaufen. Blut. Sie hatte so friedlich ausgesehen.
Roy Anselmo blickte auf den Boden. Manchmal half das. Manchmal, wenn der Boden richtig war und Linien hatte.
Dieser hatte Linien. Ein Muster. Anselmo erhob sich und folgte den Linien – so lange, bis er sie alle einmal betreten hatte. Dabei setzte er immer einen Fuß direkt vor den anderen.
„Es ist alles in Ordnung“, murmelte er laut. „Alles…“
Ein Ritual.
Er wusste, dass es nicht immer half.
27
Nachdem die Kollegen des Erkennungsdienstes eintrafen, machten Milo und ich uns zusammen mit Josephson auf, um dem Barbesitzer MacConroy einen Besuch abzustatten. Wenn jemand etwas über Anselmo wusste, dann vielleicht er.
Als wir an MacConroys Wohnungstür klingelten, öffnete uns mit einiger Verzögerung ein Mann von Ende vierzig, der auf Krücken lief. Er hatte den rechten Fuß in Gips. Wir zeigten ihm unsere Ausweise.
„Kommen Sie herein, aber erwarten Sie keine Bewirtung oder so etwas. Ich kann Ihnen weder Kaffee ich sonst etwas anbieten und bin schon