Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Bewegung wahr. Etwas schoss durch die Luft. Einer der Männer aus Norinskys Gefolge hatte einen Taser abgeschossen. Die Pfeile mit den Elektroden trafen Anselmo im Rücken. Er wollte nach seiner eigenen Waffe greifen, aber der Stromschlag ließ ihn zusammenkrampfen, dass er im nächsten Moment vollkommen bewegungsunfähig war.
Roy Anselmo brach zusammen und blieb auf dem feuchten Asphalt liegen.
Norinsky trat an ihn heran. Mit der Fußspitze drehte er den hilflosen Anselmo herum. „Niemand tanzt mir auf der Nase herum!“, zischte der korpulente Mann. „Und schon gar nicht so ein Stück Dreck wie du!“
Anselmo war unfähig, etwas zu erwidern.
Er stöhnte nur auf.
Norinsky machte eine ausholende Handbewegung. „Bringt ihn in die Lagerhalle. Und dann werden wir uns mal eingehend darüber mit ihm unterhalten, was er wirklich weiß…“ Der große Boss verzog das Gesicht zu einer grausamen Maske. „Deine Schreie wird hier draußen niemand hören, du Narr!“ Dann kicherte er in sich hinein.
32
Roy Anselmo fand sich tatsächlich in den Kriminaldateien der Kollegen aus Quebec. Es gab mehrere Haftbefehle gegen ihn, einer davon wegen Totschlag. Dazu kamen noch ein paar kleinere Vergehen, darunter Körperverletzung und Nötigung. Unter anderem hatte er eine junge Frau ziemlich übel zugerichtet. Leider war aus den Unterlagen nicht ersichtlich, ob diese Frau rote Haare hatte.
Roy Anselmo war als Jean Marquanteur in Quebec geboren worden. Nachdem frühen Alkohol-Tod seiner Mutter war er in einem Heim gelandet und bald wegen psychischer Auffälligkeiten und einem Hang zur Gewalttätigkeit in Erscheinung getreten. Um der Strafverfolgung zu entgehen war der Mann, den wir bisher als Roy Anselmo kannten, untergetaucht. Man hatte in Kanada nie wieder etwas von Jean Marquanteur gehört.
Das musste wohl die Geburtsstunde einer anderen Identität gewesen sein.
Er wurde in die Fahndung eingegeben.
„Der Mann hat es gelernt, sofort zu verschwinden, wenn der Verfolgungsdruck zu groß wird“, analysierte Dr. Franklin Martin. „Ich nehme an, dass er sich nicht zum ersten Mal eine neue Identität zulegt.“
„Aber diesmal werden wir dafür sorgen, dass es schwieriger für ihn wird“, kündigte Captain Josephson an. „Wir werden Fotos an die Medien geben.“
„Die Fahndungsfotos der Kollegen aus Kanada sind allerdings deutlich veraltet“, stellte Milo fest. „Darauf wird ihn niemand wieder erkennen.“
„Man müsste ihn künstlich altern lassen“, stellte ich fest.
„Kein Problem“, erklärte Josephson. Er grinste. „Wir haben hier vielleicht nicht eine ganz so perfekte Ausstattung, wie Sie es vom FBI her gewohnt sind, aber so etwas können wir auch.“
Ein Pizza-Service brachte für uns alle etwas zu essen. Es war klar, dass unser Einsatz noch etwas länger dauern konnte und wir eine lange Nacht vor uns hatten. Wenn wir es nicht schafften, Anselmo alias Marquanteur einigermaßen schnell zu fassen, bestand die Gefahr, dass wir ihn völlig verloren.
Er hatte schließlich ausreichend Erfahrung darin, sich unsichtbar zu machen.
Der Kaffee im Headquarter war stark genug, schmeckte aber etwas bitter. Immerhin sorgte er dafür, die Müdigkeit zu vertreiben. Ich kaute auf einem Stück Pizza herum und machte mir Gedanken darüber, welches Netz man auslegen konnte, um diesen Täter in die Falle laufen zu lassen.
Milo schien meine Gedanken zu erraten.
„Er ist uns einfach einen Schritt voraus gewesen“, meinte er.
Dann meldete sich plötzlich eine Kollegin aus dem Innendienst zu Wort.
„Anselmo hat sein Handy für etwa eine halbe Minute aktiviert“, meldete sie. „Jetzt ist das Signal wieder weg.“
„Reicht das, um seinen Aufenthaltsort zu bestimmen?“, fragte ich.
„Es reicht“, nickte die Kollegin. „Anselmo – oder vielleicht auch nur sein Handy – hält sich inmitten der Hafenruine am Lake Erie auf!“
Ich wandte mich an Josephson. „Mobilisieren Sie alles, was im Moment noch im Dienst ist, Captain!“
„Das werfe ich!“, versprach er.
Ich ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. „Dies ist vielleicht unsere letzte Chance, den Kerl noch zu fassen“, murmelte ich.
33
Im Gefolge von einem Dutzend Einsatzwagen des Buffalo Police Department erreichten wir die Industrieruine am Hafen. Captain Josephson hatte die Einsatzleitung. Vom See her näherten sich zwei Helikopter, die mit großen Scheinwerferkegeln das Gelände absuchten.
Wir stellten unseren Sportwagen ab und stiegen aus. Dann legten wir unsere Kevlar-Westen an, die bei einem Einsatz wie diesem unerlässlich waren. Schon peitschten Schüsse in der Dunkelheit. Überall kreisten Scheinwerfer.
Zusammen mit den Einsatzkräften der Polizei arbeiteten wir uns voran. Etwa hundert Meter von uns entfernt befanden sich mehrere Fahrzeuge, die offenbar von einem halben Dutzend Personen bewacht wurden.
MPis knatterten los und Mündungsfeuer blitzten auf.
Aufgeregte Stimmen gellten durch die Nacht.
Eine Megafonstimme ertönte und forderte die Bewaffneten auf, sich zu ergeben.
Im nächsten Moment heulte der Motor eines Van auf, dessen Insassen offenbar einen Durchbruch versuchten.
Der Wagen fuhr mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit auf die Einsatzkräfte zu.
Schüsse in die Vorderreifen ließen den Van zur Seite ausbrechen. Nachdem das Gummi innerhalb von Augenblicken verbrannte, kratzten die bloßen Felgen funkensprühend über den Asphalt.
Josephson und seine Leute kreisten den Van ein. Die Insassen ergaben sich. Handschellen klickten.
Den Verhafteten wurden die Rechte vorgelesen.
Inzwischen gaben auch die Männer in der Nähe der anderen Fahrzeuge auf. Die Übermacht der Polizei war einfach zu überwältigend.
„Wo ist Roy Anselmo?“, fragte ich. „Wir haben sein Handy geortet und wissen, dass er hier war!“
Milo deutete auf einen Ford, der gegenüber den Limousinen und dem Van doch erheblich abfiel. „Das dürfte sein Wagen sein!“
Ein Kennzeichenvergleich ergab tatsächlich, dass es sich um ein Fahrzeug handelte, das auf den Namen Roy Anselmo zugelassen war.
Wenig später fand Milo das Handy auf dem Boden. Es war zertrümmert worden.
Ich wandte mich an einige der Gefangenen. „Wo ist der Mann, dem dieser Wagen gehört? Wenn Sie selbst juristisch mit einem blauen Auge davonkommen wollen, dann sollten Sie jetzt kooperieren.“
Schweigen schlug uns zunächst entgegen.
Dann gab sich einer der Festgenommenen einen Ruck. „Sehen Sie in der Halle da vorne nach!“, murmelte er.
Wir verloren keine Zeit, sondern arbeiteten uns weiter voran. Zusammen mit den Beamten des Buffalo Police Department näherten wir uns der Halle. Unmenschliche Schreie waren von dort zu hören. Gewaltsam öffneten wir die Tür. Mit der Dienstwaffe in der Hand stürmten wir hinein. Die Lichtkegel unsere Taschenlampen schwenkten herum.
Aber es war niemand zu sehen. Ein stechender Geruch hing in der Luft und etwa hundert halbverrostete Fässer standen dort.
Erneut war ein dumpfer Schrei zu hören.
„Vielleicht gibt es hier noch eine Keller!“, vermutete Milo. Die Einsatzkräfte der Polizei schwärmten